9. November: Gegen das Wegsehen

■ Zentralrats-Vorsitzender Ignatz Bubis zur Reichspogromnacht in Bremen

Dr.Adolph Goldberg und seine Frau Martha, Heinrich Rosenblum, Leopold Sinahsohn und Selma Zwienick. Ein Arzt, eine Buchhalterin, ein Kaufmann, ein Monteur und eine Sekretärin, sie alle wurden in den blutigen Stunden der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in ihren Wohnungen erschlagen — als die Synagoge in der Innenstadt angezündet wurde und bis auf die Grundmauern abbrannte, als die Begräbnishalle beim jüdischen Friedhof in Hastedt genauso verwüstet wurde, wie die Gebetsstuben in Sebaldsbrück und Aumund. Als der braune Mob tobte und die meisten braven Bürger wegsahen: Reichspogromnacht, vor genau 54 Jahren.

Dichtgedrängt, still, ergriffen standen gestern rund 1000 BremerInnen, vor allem SchülerInnen, die sich zuvor zur Demonstration auf dem Marktplatz versammelt hatten, vor dem Mahnmal für die Opfer der Pogrome, als der Oberrabbiner Kaddisch betete, den Klagegesang für die Toten. Und die einzigen Worte, die die meisten verstanden, waren Auschwitz, Majdanek, Treblinka. Nach den Anschlägen auf Asylbewerber, nach dem untergründigen Antisemitismus eines Rostocker Politikers, nach der mißratenen Kundgebung in Berlin war das keine Gedenkveranstaltung wie in den Jahren zuvor.

Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, war nach Bremen gekommen. Und er fand deutliche Worte gegen das Vergessen und dafür, daß die Demokratie sich wehren soll: „Es kann nicht angehen, daß Brandsätze, die in bewohnte Häuser geworfen werden, mit Landfriedensbruch geahndet werden. Das ist Brandstiftung oder versuchter Mord.“

Was Bubis gelang, war eine eindringliche Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gewaltstimmung der letzten Monate. „Wir Juden wurde alleingelassen“, sagte er, und zählte noch einmal einige Stationen der Shoah auf. Und spätestens in jener Nacht im November 38 hätten die letzten ernüchtert sein müssen, hätten begreifen müssen, welche Blutspur hier beginne. „Wir Juden wurden alleingelassen.“ Das Wegsehen — Grund genug, sich auch noch nach 54 Jahren zu erinnern.

Es sei falsch, 1992 mit 1938 gleichzusetzen, sagte er. „Das waren staatlich gesteuerte Aktionen. Wer das gleichsetzt, verhöhnt die Opfer.“ Und: „Noch ist unser gesellschaftliches System in der Lage, Herr der Situation zu werden.“ Die demokratischen Parteien müßten begreifen, daß das gegenseitige „Verunglimpfen nur den Feinden der Demokratie hilft.“

Die Fraktionsvorsitzenden von SPD, CDU. Grünen und FDP legten gemeinsam einen Kranz am Mahnmal nieder. Und die Rundfunkjournalistin Karla Müller-Tupart, Mitglied der jüdischen Gemeinde, war am Ende froh, „daß alles so friedlich abgelaufen ist. Anders als gestern in Berlin.“ Jochen Grabler