: „Ein Drama, wie es schlimmer nicht sein kann“
■ Psychiatrisches Gutachten im Prozeß um eine angebliche Baby-Mörderin
Moabit. „Das war der krönende Abschluß. Von wegen Freiheit, ich bin immer nur einsam. Ich laß' mir mein Leben nicht ruinieren, von niemandem“, zitierte Richter Seidel aus dem Tagebuch der Angeklagten. Eilig folgte die 22jährige Grit A. der Aufforderung Seidels, vor der Richterbank Platz zu nehmen. Die 23. Strafkammer des Berliner Landgerichts klagt sie des Mordes an ihrem drei Monate alten Sohn Alex an. Am 21. April dieses Jahres soll sie das Baby aus dem Kinderwagen in den Marzahner Wuhletalbach gekippt haben. Fast eine Woche lang hielt Grit A. die Kripo mit einer falschen Tatversion in Atem: Sie gab vor, daß das Baby von drei Skinheads entführt worden sei. Als das Kind am 26. April tot aus dem Bach geborgen wurde, gab sie die Tat bei Polizeivernehmungen zu. Richter Seidel hielt der kindlich wirkenden Angeklagten die Tagebucheintragungen offensichtlich vor, um zu erfahren, ob die Tat geplant war. Ein paar Tage vor der Tat will Grit A., die mit 13 Jahren einmal von drei Männern vergewaltigt worden war, diese Eintragung nach einem Streit mit ihrem Lebensgefährten, dem 23jährigen KFZ-Mechaniker Matthias E., gemacht haben, „weil er so selten zu Hause war“. Von ihm fühlte sie sich vernachlässigt. „Die Männer, die mich damals vergewaltigt haben, haben mir körperlich wehgetan, Matthias hat mir seelisch wehgetan“, fügte sie gestern vor Gericht hinzu.
Aussagen wie diese legten in dem bisherigen Prozeßverlauf den Schluß nahe, daß die 22jährige gefühlskalt sei und sich lediglich von einer aus ihrer Sicht unangenehmen Situation befreien wollte, wie es in der Boulevardpresse dargestellt worden war. Der psychiatrische Sachverständige Werner Platz erläuterte gestern seine andere Einschätzung der Angeklagten. Er glaube, daß die gelernte Sekretärin an einer „unreifen Persönlichkeitsstörung“ leide, und schloß damit eine verminderte Schuldfähigkeit nicht aus. Mit Sicherheit habe sie am Tag vor der Tat nicht gedacht: „Morgen passiert's“, so der Sachverständige. Vielmehr sei Grit A. nicht in der Lage gewesen, ihre Probleme in der Beziehung zu artikulieren. Die Konflikte aber habe sie nicht lange aushalten können und deswegen zu einem „Kurzschlußdenken“ geneigt. Das sei auch Ausdruck ihrer Unreife. Alternativen für ihr Handeln habe sie in der „subjektiv empfundenen Überforderungssituation“ nicht erkennen können, erklärte der Sachverständige ein „Drama, wie es schlimmer nicht sein kann“.
Richter Seidel tat sich schwer, den Ausführungen des Sachverständigen zu folgen: „Dann könnte man ja immer von einer Persönlichkeitsstörung sprechen, wenn, so wie hier, ein im Leben stehender Charakter wie Matthias E. und eine Introvertierte aufeinandertreffen – nur, weil das nicht zusammenpaßt.“ Verstehen könne man die Tat, wenn man psychologische Komponenten miteinbeziehe, erklärte der Sachverständige die Mißverständnisse. So handele es sich bei der Unreife um einen „bleibenden Zustand“. Es müsse damit gerechnet werden, daß die Persönlichkeitsstörung in zwei, drei Jahren „nicht einfach verschwunden sei“.
Der Nervenarzt untermauerte seine Ausführungen zudem mit der ersten Falschaussage der Angeklagten. Ein Zeichen der Infantilität sei es, die Dinge anders darzustellen, als sie sind. Ebenso sei das späte Erkennen der Schwangerschaft – Grit A. hatte erst im siebten Monat erkannt, daß sie mit dem später verstorbenen Kind schwanger ging – nur durch bewußtes Verdrängen zu erklären. Das aber sei krankhaft.
Während der Sachverständige sprach, saß Grit A. mit hängenden Schultern und vor Scham gesenktem Kopf auf der Anklagebank. Als der Prozeß gestern unterbrochen wurde, rief sie ihre Mutter aus dem Zuhörersaal zu sich. Grit A. brach in Tränen aus, als sie sich umarmten, und vergrub den Kopf an der Brust der Mutter.
Der Prozeß wird am Donnerstag mit Plädoyers fortgesetzt. Ralf Knüfer
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