: 45 Gramm Papier
Meine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland ist grün, 15 Zentimeter hoch, 10,5 Zentimeter breit und hat 32 Seiten. Dort, wo in anderen Büchern eine kurze Inhaltsangabe abgedruckt ist, steht der Satz: Dieser Reisepaß ist Eigentum der Bundesrepublik Deutschland. Ich bin es nicht, ich habe nur Eintritt bezahlt, um hin und wieder austreten zu können, zehn lächerliche Deutschmark, für Ausflüge von Alaska bis Zentralafrika. Wenn schon nicht Eigentümer, so bin ich wenigstens „Inhaber“ dieses Reisescheckheftes, und: „Deutscher“. [...] Ich möchte dieses in Pappe gebundene Heftchen gerne verkaufen, aber ich darf es nicht, bin nicht Eigentümer, obwohl ich für diese 45 Gramm Papier eigentlich schon viel zuviel bezahlt habe.
Mein Freund Chaled hatte auch einmal so ein Pappheftchen, hatte auch einige Lira dafür bezahlt, war nur Inhaber, nicht Eigentümer eines rot eingebundenen Büchleins. Es wies ihn in der Spalte „Nationalität“ als „staatenlos“ aus, obwohl er stolz darauf ist, Palästinenser zu sein. Ich beneide ihn um seine „Staatenlosigkeit“, ihm wird sie zum Verhängnis. Er möchte nicht in Deutschland leben, aber seine Heimat ist der Koffer, der ihn begleitet. Chaled hat sein Reiseheft auf dem Weg nach Europa weggeworfen, weil es als Eintrittskarte für Deutschland nicht gültig war. Er wollte nur eine Weile bleiben, nur ausruhen. Zwei seiner Brüder waren in Beirut im zusammengeschossenen Haus seiner Familie gestorben, seine Universität zerbombt worden. Chaled wollte sein Studium in Deutschland fortsetzen, wollte hier arbeiten, wollte ein bißchen mit uns leben und erleben. Jetzt soll er „zurück“, wo immer dieses Land sein mag. [...]
Ich würde ihm gerne meine 45 Gramm Papier, die „Paß“ heißen, geben, aber ich darf es nicht, weil ich Deutscher, deutscher Inhaber bin. Zehn DM für ein Leben in Frieden und Freiheit? Leben in einem Land, in dem Nacht für Nacht Flüchtlingsheime brennen, Menschen erschlagen und beschossen werden wie in Beirut. Mein deutscher Paß würde ihn nicht schützen vor diesen häßlichen Fratzen und Glatzen. Chaled ist „staatenlos“, eigentlich ein paradiesischer Zustand, aber ein Land mit dieser Bezeichnung existiert nicht. Bis dahin wird abgeschoben, ausgewiesen, „reintegriert“, ausgemustert, aussortiert. Einige werden geduldet, einige dürfen die deutsche Eintrittskarte kaufen.
Solange dies so ist, mag ich viele Deutsche nicht mehr, weder diejenigen, die in Uniform an den Rampen von Auschwitz und Sachsenhausen standen und aussortierten, noch diejenigen, die diese „Arbeit“ im Anzug am Schreibtisch erledigen. Und diejenigen, die die Geschändeten noch einmal töten, indem sie auch noch die Erinnerung an sie auslöschen wollen, erst recht nicht. Ich bin stolz, kein Deutscher zu sein, sondern nur Inhaber. Eigentum an diesem Zustand zu haben wäre unerträglich. Jan Jans Müntinga, Bonn
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