: „Retraumatisierung“ der Opfer
■ Frühere Erlebnisse der KZ-Überlebenden werden jetzt aktiviert
Mitte. „Und die Welt hat geschwiegen“: Der international renommierte Psychiater Leo Eitinger aus Oslo hatte sich für seinen Vortrag zum Gedenken an die Reichspogromnacht im Jahr 1938 vorgestern abend in der Jüdischen Gemeinde einen sonst eher vernachlässigten historischen Aspekt herausgegriffen.
Nach anfänglicher Aufregung in der Welt über die Machtübernahme Hitlers, so der 80jährige Professor, hätten die Nazis sehr schnell begriffen, „daß das Weltgewissen nicht gern gestört wird“. Nach wenigen Jahren sei jenes Gewissen, wenn es denn überhaupt existiere, schon „abgestumpft“ gewesen, unter anderem deshalb, weil „dauerndes Unrecht keine Sensation für Journalisten ist“. Schlimmstes Symptom für diesen Zustand sei die Konferenz von Evian-Les Bans vier Monate vor der Reichspogromnacht gewesen, als sich damals Vertreter von 32 Staaten in der Schweiz trafen, um über die jüdischen Flüchtlinge zu reden.
„Einer nach dem anderen erhob sich feierlich“, berichtete Eitinger, „und erklärte, man könne keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen.“ Nur der dominikanische und der holländische Delegierte hätten bekanntgegeben, daß sie den Bedrängten helfen würden. Dafür aber habe der polnische Vertreter selbst die jüdische Minorität in seinem Lande loswerden wollen. „Hochstehende Demokratien wie die Schweiz, Schweden und Norwegen“, so der Zeitzeuge weiter, „haben spezielle Reisebeschränkungen für Personen mit einem J im Paß eingeführt“ und somit offiziell anerkannt, „daß Deutschland zwei Arten von Bürgern hatte“.
Für Leo Eitinger, Überlebender des Holocaust, folgt daraus „die Lehre“, daß man niemals und nirgendwo „Grenzen und Begrenzungen der elementaren Menschenrechte“ akzeptieren dürfe. Denn „solange wir schweigen, wenn andere zum Objekt der Diskriminierung gemacht werden, solange sind wir alle in Gefahr“.
In Gefahr, so räumte er auf Nachfragen aus dem Publikum ein, das sich besonders für die psychologische Behandlung von Überlebenden der Konzentrationslager als seinem eigentlichen Fachgebiet interessierte, in Gefahr fühlten sich nun auch wieder eben diese Überlebenden. „Bei den antisemitischen Ereignissen in Deutschland und Frankreich“, so der Psychiater, „werden frühere Erlebnisse aktiviert“, die Opfer würden retraumatisiert. Aber: Eine vollständige Verheilung ihrer tiefen psychischen Wunden sei eh nicht möglich, nur eine Verringerung der Symptome dieser „Extremtraumatisierung“.
Viele Überlebenden hätten sich zuerst jahrelang in ihre Arbeit geflüchtet und nichts über ihre Erlebnisse berichtet, seien dann aber plötzlich krank geworden. Die einzelnen Symptome, nämlich „Schlafstörungen, Depressionen, Alpträume, Schwierigkeiten, mit anderen Leuten auf natürliche Weise umzugehen“, hätten sich nur langsam über die Jahre reduzieren lassen.
Übrigens gibt es seit exakt einem Jahr auch in Berlin eine Beratungsstelle, die ehemals Verfolgten und auch ihren Kindern psychische Unterstützung bei der Aufarbeitung des Erlebten anbietet. „Esra“, wie die Einrichtung nach dem hebräischen Wort für Hilfe genannt wurde, hat ihren Sitz in der Passauer Straße4, und Leo Eitinger ist ihr Ehrenvorsitzender. Ute Scheub
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