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Demo am 8.November in Berlin

■ Berichterstattung und Kommentare, taz vom 9.11.92

Berichterstattung und Kommentare, taz vom 9.11.92

Es wird immer bodenloser: Wer nicht mit den für die Pogrome verantwortlichen Politikern zusammen demonstrieren wollte, war für Ute Scheub bereits ein „Sektierer“. Laut Erich Rathfelder zeugt es von einem „ahistorischen Bewußtsein“ mit Leuten, die das Asylrecht abschaffen werden, Sozialhilfe für Flüchtlinge kürzen wollen, einen Deportationsvertrag mit Rumänien abschließen und im Zusammenhang mit Rostock vom Mißbrauch des Asylrechtes reden, kein „breites Bündnis gegen Rechtsradikalismus“ schließen zu wollen.

Schließlich „muß man nicht mit allen Demonstrierenden in allen Fragen übereinstimmen“. Ihr müßt in den siebziger Jahren traumatische Erfahrungen gemacht haben. Ulrich Klinggräff, Berlin

Heute war ich bei der Demo gegen Ausländerfeindlichkeit und habe mich sehr wohl gefühlt bei dieser friedlichen Stimmung der Leute.

Nachher habe ich mich aber sehr geärgert über die Berichterstattung bei B1 im Fernsehen, besonders bei der „Abendschau“, aber auch sonst. Der Akzent lag wirklich zu sehr auf den Krawallen bei der Kundgebung, die die meisten Leute überhaupt nicht mitgekriegt haben.

Überwiegend wurde dies gezeigt, während die friedfertige Haltung der meisten Leute unterging. Es geht den Politikern anscheinend nur darum, wie es nach außen aussieht und auf die Welt wirkt und nicht, was bei den meisten Deutschen für eine Haltung vorhanden ist. [...] E.de Roos, Berlin

„Krawalle, Steinwürfe“ und Störungen hat die veröffentlichte Meinung bei der Präsidentendemonstration ausgemacht. Die taz vorneweg: Eine Chance sei vertan, beklagt sich Erich Rathfelder spaltenlang auf der Seite 1. Im Teutschen Fernsehn darf ein Professor nachhaltig und mit zornesbebender Stimme schwadronieren, daß diese Leute (gemeint sind die Berliner „Chaoten“, die es gewagt haben, im Angesicht von Bundespräsident und Kanzler zu pfeifen, Eier und Farbbeutel zu werfen und „Heuchler“ zu rufen“), hinter Schloß und Riegel gehören, ohne daß ihm Thierse, oder wie die Bonner Schönwetterdemokraten sonst so heißen mögen, entgegentreten.

Seit Ihr denn alle von Sinnen? Ist die Weimarer Republik zugrundegegangen, weil Menschen im Angesicht der Staatsführung gepfiffen, gejohlt haben und mit Farbeiern um sich warfen? Oder weil es zu viele Angehörige der Teutschen Jugend gab, die angesichts von Autoritäten strammstanden und im Gleichschritt marschierten, wohin und wogegen man ihnen befahl zu marschieren?

Und wo hat die taz eigentlich Steine fliegen sehen? Kann es sein, daß Eure Leute zu faul waren, die Pressetribüne zu verlassen und sich unters Volk zu mischen? Habt Ihr deshalb die Lügengeschichten der beleidigten Majestäten und ihrer Sicherheitskräfte verbreitet, weil Ihr Euch die Demonstration nur aus der Ferne angesehen habt? Jony Eisenberg, Berlin

[...] Auch die taz läßt sich ihre Wahrnehmung vorprägen. Knapp zehn Meter vor der Absperrung vor der Rednertribüne, inmitten von ganz normalen BürgerInnen (=ältere Menschen, jüngere Menschen und Kinder verschiedenster Herkunft, Nationalität und politischer Meinung, die es sehr wohl sehr gut nebeneinander ausgehalten haben), war deutlich und offenen Auges zu sehen: Der „autonome Block“ bestand nicht aus „Tausenden“ (Thierse), Hunderten (common sense), sondern höchstens aus einem paar Dutzend Krawallhanseln, die sich untereinander keineswegs einig waren (Hanna-Renate Laurien, die ebenfalls einen guten Standort hatte, hat dies in einem TV-Statement deutlich gesagt!). Steine sind nicht aus dieser Gruppe Richtung Rednerpult geflogen, ein paar Eier, Obst und Gemüse und der eine oder andere Farbbeutel hingegen schon.

Die Verlesung des Briefes der Quedlinburger Bürgerin wurde kurz angepfiffen, dann angehört – teilweise mit Ergriffenheit. Prekär wurde die Lage erst, als die Polizei– statt die Störer schnell zu isolieren – die gesamte Menge zurückdrängte. Das war unverantwortlich– aus schier physikalischen Gründen, denn die Menschen standen eng gedrängt. Ein Zurückschieben der Masse um nur zehn oder 20 Meter hatte verständliche Anfälle von Panik (vor allem bei älteren Menschen und bei Leuten mit Kindern, die massiv gequetscht wurden) zur Folge. Wobei auch in dieser Situation die Leute erstaunlich ruhig und gelassen blieben.

Dies alles zu schweren Ausschreitungen aufzuplustern, davon gar den Erfolg, den diese Riesendemonstration schlicht und einfach hatte, geschmälert zu sehen – das ist Hysterie, im günstigsten Fall, Manipulation und schamlose Meinungsmache im Durchschnittsfall. [...] Thomas Wörtche, Berlin

Demontage unseres Rechtsstaates

Da wir tagtäglich im Begriff sind, unser vielfach bewährtes Grundgesetz zu demontieren, hier ein paar Anmerkungen zur Artikel 8 (Versammlungsfreiheit) GG.

Der peinliche und hilflose, wenn auch in bester Absicht gestartete Versuch der politischen Klasse in diesem unserem Lande, ihre Arbeitsweise ins rechte Licht zu rücken, hat für mich folgende Erkenntnis gebracht:

Volksvertreter, die gewählt wurden, um Ansehen und Fortbestand dieser bundesrepublikanischen Demokratie zu schützen und weiterzuentwickeln, gehören auf keine Demonstration, die eben genau das Aufzeigen von Glaubwürdigkeitsverlust und Heuchlertum innerhalb des parlamentarischen Systems zum Ziel hat. Somit sind die massiven und lautstarken Protestaktionen während der Redebeiträge nur folgerichtig und zeigen mir das Funktionieren unseres Rechtsstaates, wonach alle Staatsgewalt vom Volke auszugehen hat (Art. 20 Abs. 2 GG).

Daß dabei auch gewalttätige Übergriffe zu verzeichnen waren, ist erschreckend und bedarf der einschlägigen Handlungsweise der Strafverfolgungsbehörden.

Als Lehre und Konsequenz aus dieser sonntäglichen „Demonstration“ ist folgende Grundgesetzänderung(ergänzung) zu veranlassen:

Art.8 des GG wird wie folgt ergänzt: Aktiven Mitgliedern des Deutschen Bundestages sowie Vertretern der Bundesregierung ist die Teilnahme an Demonstrationen zum Aufzeigen von Mißständen an Arbeits- und Handlungsfähigkeit von Bundesgesetzgebungsorganen verboten. Das Nähere regelt ein Versammlungsgarantiegesetz. Jürgen Burneleit, Berlin

Mir ist es lieber, wenn die Falschen etwas Richtiges tun, als wenn die Richtigen falsch handeln. Peter Neunert, Hamburg

Da gehen über 300.000 auf die Straße, um über die üblichen politischen Gräben hinweg gegen die Neonazis zu demonstrieren und hinterher statt Freude über die gelungene Aktion wieder bloß Gejammer. Deutsche (Intellektuelle) jammern eben gern.

Hat denn jemand geglaubt, die „Autonomen“ würden sich diese Chance zur Selbstdarstellung entgehen lassen? Erich Rathfelder versucht dankenswerter Weise, einigermaßen den Überblick zu bewahren. Was bleibt festzuhalten:

1.Die Demonstrationen in Berlin und anderswo gegen den rechten Mob waren ein Erfolg.

2.Großen Teilen der Linken ist es erstmals gelungen, zur richtigen Zeit zu merken, daß man Koalitionen eingehen kann und muß, wenn es darum geht, neofaschistische Tendenzen zu bekämpfen.

3.Die „Autonomen“ gehören auch seitens der Linken deutlich als das charakterisiert, was sie sind: Faschisten mit linker Rhetorik, denen es gut gefällt, daß sie in den Skins endlich Prügelpartner auf gleicher Ebene gefunden haben. Lutz Rohrmann,

Edingen-Neckarhausen

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