: Wegfall der Geschäftsgrundlage
■ Wie Honecker vor das Berliner Landgericht kam: Der internationale Streit um Honeckers „Rückführung“ aus der sowjetischen Altersfürsorge
Nur um der Pflicht zu genügen und mit sanfter Stimme legte Genscher bei Gorbatschow Protest ein. Das offizielle Bonn, vom sowjetischen Botschafter rechtzeitig unterrichtet, nahm März 1991 die Nachricht vom Transfer Honeckers aus einem sowjetischen Militärhospital (bei Beelitz) in ein anderes (bei Moskau) mit kaum verhohlener Erleichterung auf. Graf Lambsdorff, als Liberaler immerhin gewissen Rechtsprinzipien verpflichtet, gab – ganz Pragmatiker – zu bedenken, daß eine Reihe von Abgeordneten des Obersten Sowjets ihre Zustimmung zum Zwei-plus-vier-Vertrag von der geglückten „Verbringung“ Honeckers in die Sowjetunion abhängig gemacht hätten.
Diesem Argument der Staatsraison trat ein innenpolitisches zur Seite: Der Strafprozeß gegen den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden, ein riskantes Unternehmen mit ungewissem Ausgang, konnte ad acta gelegt werden. Zwei Tage nach dem Akt sowjetischer Altersfürsorge gewann Deutschland die volle staatliche Souveränität zurück.
Michail Gorbatschow hat damals und auch später für das Fluchtunternehmen von Beelitz, das den Stationierungs- und Abzugsvertrag ebenso verletzte wie allgemeine Normen des Völkerrechts, humanitäre Motive geltend gemacht.
Drastischer hat es damals Wiktor Alksnis, einer der „schwarzen Obristen“, ausgedrückt: „Ob wir es wollen oder nicht, diese Leute waren unsere Verbündeten. Sie verfolgten unsere Politik. Als die Amerikaner 1975 Vietnam verließen, haben auch sie all ihre Anhänger mitgenommen“. So dachten damals nicht nur steinharte Nomenklaturisten, sondern auch viele einfache Sowjetmenschen und dabei wäre es wohl geblieben – hätten der Augustputsch und seine Folgen nicht dem ganzen Verfahren die Geschäftsgrundlage unter den Füßen weggezogen.
Im Gefolge des Putschs brach die Sowjetunion zusammen, die Regierung der Russischen Föderation zog Schritt um Schritt die Kompetenzen der Sowjetregierung an sich – auch auf dem Gebiet des Justizwesens. Jetzt, da das Kondominium Gorbatschow-Jelzin nicht mehr existierte, wurde auch der „Fall“ des unwürdigen Greises Honecker zum Material für die Abrechnung mit dem alten Regime – und für den Aufbau diplomatischer Beziehungen mit der BRD, die es – konfrontiert mit der Peinlichkeit der Mauerschützenprozesse – nun eilig hatte, endlich den „Großen“ statt der „Kleinen“ hängen zu sehen.
Der neue russische Justizminister Nikolai Fjodorow erklärte Honeckers Transfer zu einem „Verbrechen im Dienst“ und stellte dessen umgehende „Rückführung“ in Aussicht. Honecker, so Fjodorow, sei nur ein ganz kleiner Läufer, ein Säugling im Vergleich zu den heimischen Sowjetmonstern (darunter auch Gorbatschow) gewesen.
Dieser Sicht der Dinge widersprach im letzten November Ruslan Chasbulatow, Vorsitzender des russischen Parlaments und Taktierer mit „rechter“ Blickrichtung. Es gehe „um die menschliche Behandlung eines alten Mannes“. Jelzin selbst verwies die BRD-Regierung an Gorbatschow, an „den von Ihnen so sehr begehrten Präsidenten“. Wohl wissend, daß diesem zwar eine Kompetenz in Asylsachen zustand, die aber schon deshalb nicht mehr durchsetzbar war, weil Rußland die Unionsverfassung auf seinem Territorium außer Kraft gesetzt hatte. Auch nach seinem Antrittsbesuch in Bonn Ende letzten Jahres und der Abdankung Gorbatschows hielt Jelzin sich eine Zeit lang Spielraum im Fall Honecker offen. Politisches Asyl war damals bereits ausgeschlossen, nicht aber die Ausreise in einen „Drittstaat“. Diese vor allem innenpolitisch begründete Option verwarf Jelzin endgültig im Frühjahr 1992, als die Regierung der BRD klar machte, daß die Rückführung (und nicht nur die Auslieferung) Honeckers Prüfstein für die russisch-deutschen Beziehungen sein würde. Mit dem getürkten medizinischen Gutachten wurde das letzte Hindernis beiseite geräumt. Der dritte Mitspieler in dieser anderthalbjährigen Pokerpartie, Chile, hatte von vorneherein die schlechtesten Karten. Nicht nur der ehemalige Außenminister Allendes und spätere Botschafter in Moskau, Clodomiro Almeyda, als politisch Verfolgter lange Jahre in der DDR, sondern auch Präsident Patricio Aylwin selbst wollten ursprünglich der Familie Honecker in Chile Gastrecht gewähren. Eine Geste der Dankbarkeit gegenüber dem Staatschef eines (untergegangenen) Landes, das, wenngleich nicht gerade aus humanitären Motiven, Tausenden von chilenischen Flüchtlingen Zuflucht geboten hatte.
Aylwins Christdemokraten gaben aber rasch dem Druck der deutschen Regierung nach. Es ging schließlich um einen 110-Millionen-DM-Kredit. Der Kurswechsel fiel Aylwin um so leichter, als seit Frühjahr 1992 die öffentliche Meinung zuungunsten Honeckers kippte und die engsten Verbündeten der Almeyda-Sozialisten nach dem Sieg bei den chilenischen Kommunalwahlen die Links-Mitte-Koalition auf keinen Fall belasten wollten.
Der neue chilenische Botschafter in Moskau, Holmes, verzichtete deshalb auch auf die Forderung, Honecker in Rußland die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen. Noch vor seiner Akkreditierung wies er dem lästigen Dauergast die Tür. Was Rußland und Chile mit dieser „Lösung“ gewannen, verliert die BRD. Logische Konsequenz zwar nicht des Poker-, aber jedes Null-Summenspiels in der internationalen Politik. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen