Gesundheitspolitik: „Gebt Aids eine Chance“

■ Verdrängung der obdachlosen Junkies / Sozialressort vermied Prozeß / Aids-Prävention bricht zusammen

„Wir haben zuviele Beschwerden, jetzt wird hier durchgegriffen“, erklärte am Freitag nachmittag ein netter Polizeibeamter einer Gruppe von Junkies. Ort des Geschehens: Der Hof hinter der Anwaltskanzlei Klischies neben dem Ortsamt am Dobben. „Seien Sie doch froh, daß die Leute nicht auf die Spielplätze gehen“, wendet eine junge Junkie-Frau ein. Der Polizeibeamte erwidert: „Ihr habt alle eine Wohnung...“

Der Hof des Anwaltes hatte sich in den letzten Monaten zu einer Art halböffentlichem Druckraum entwickelt. Am Donnerstag, als Klischies von einem Termin zurückkam, war sein Parkplatz völlig versperrt: Eine Frau lag quer auf dem kalten Boden, einige Junkies über sie gebeugt. Ob sie denn keine Wohnung hätten, fragte der Anwalt. Aus dem Container, in dem er untergebracht sei, müsse er morgens um 10 Uhr raus, erst um 18 Uhr öffnen sich die Türen wieder, erklärte der Junkie Matthias D. Am linken Auge hat er eine Entzündung, eine Binde soll vor Verunreinigung schützen. Wie, wenn man den ganzen Tag im Kalten verbringen muß?

Aus der Regenpfütze ziehen sich die Junkies das Wasser in ihre Spritze, um das Heroinpulver aufzulösen, hat Klischies entsetzt beobachtet. „Soll ich ihnen frisches Wasser herausbringen? Die müssen sich hier herumtreiben, so ist unsere Gesundheitspolitik“, empört sich der Anwalt. Soziale Betreuung der Junkies, die in Parlamentsreden mitleidsvoll „Kranke“ genannt werden? „Ich habe hier nicht einen Streetworker gesehen, aber ich habe zwei Polizeibeamte gesehen, die sich kümmern, ganz prima Leute. Die Polizei leistet eine bessere soziale Betreuung als das bremische Sozialressort.“ Klischies' Konsequenz: „Ich kann hier doch keinen wegtreiben von meinem Hof.“

Der Anwalt hatte am Donnerstag den Junkie Matthias D. in seine Kanzlei eingeladen und schnell den Antrag auf „einstweilige Anordnung“ formuliert: Die auf die Nacht beschränkte Container-Unterbringung eines akut kranken obdachlosen Menschen verletze das Grundrecht der Persönlichkeit, so seine rechtliche Begründung. Der Staat ist verpflichtet, Obdachlose menschenwürdig unterzubringen.

Ein Anwaltsbote hat die Eil

Aids-Prävention am Sielwalleck, seit Wochen abgebaut Foto: Ch. Holzapfel

sache beim Verwaltungsgericht in den Nachtbriefkasten geworfen, am Freitag früh rief das dann Gericht an: Im Falle Matthias D. habe das Sozialressort dem Gericht versichert, daß eine Unterkunft rund um die Uhr gewährleistet werde. Der kleine Dienstweg hat also in diesem Einzelfall funktioniert, das Gericht mußte sich mit der Verletzung der Menschenwürde durch die Bremer Drogenpolitik nicht mehr befassen.

Die anderen Junkies im Hof des Anwaltsbüros wurden am Freitag durch Polizei vertrieben. Ganz veständlich erklärte der Polizeibeamte den Junkies, wo sie nicht geduldet würden: Überall, wo Nachbarn beeinträchtigt sein könnten. Also auch nicht mehr am Rembertikreisel, weil im Winter kein Laub an den Bäumen ist und Anwohner das Elend mitansehen müßten.

Stahlrahmen

Auch Im Falle des Klischies-Hofes hatten Nachbarn sich beschwert. Mehrfach hatten sie über einen zwei Meter hohen Zaun die Junkies, die sich nirgends aufwärmen und trocknen können, mit einem Schlauch naßgespritzt. Über die Anwältin Oelbermann haben sie den Hausherrn Klischies schiftlich aufgefordert, seine „liberale Einstellung zu überdenken“.

Der SPD-Politiker Klischies hatte die Gesundheitssenatorin auf dem SPD-Parteitag auf die Frage der sterilen Spritzen angesprochen. Sie wolle zehn Spritzenautomaten aufstellen, hatte die Senatorin unter dem Beifall der Delegierten versprochen.

Vergeblich warten die Junkies seit Wochen darauf, daß wenigstens der eine Spritzenautomat, der am Sielwall-Eck weggenommen wurde, irgendwo anders wieder aufgebaut wird. Was so ein Spritzenautomat für die Aids-Prävention Tag für Tag bedeutet, läßt nur anhand der Zahlen ermessen: Über 20.000 sterile Kanülen monatlich fanden über diesen Automaten den Weg zu den Drogenabhängigen. Die Benutzung nicht-steriler Spritzen muß drastisch gestiegen sei. Ab kommender Woche, wenn „die repressiven Maßnahmen anlaufen“ gegen den Drogenstrich Friesenstraße, fällt der Spritzentausch für drogenabhängige Frauen in der Schmidtstraße ersatzlos weg — das sind 10.000 verbreiteter steriler Spritzen pro Monat weniger. „Alle Bemühungen der Aids-Prävention sind in wenigen Monaten zunichte gemacht worden“, klagt die Mitarbeiterin des Vereins Kommunale Drogenpolitik, Sabine Michaelis: „Der Senat handelt nach der Devise: Gib Aids eine Chance!“. K.W.