Kein Geld, kein Personal, kein Platz

Seit fast 20 Jahren haben die Deutschen ein „Asylantenproblem“/ Das Grundrecht auf Asyl wird schrittweise durchlöchert/ Etappen einer politischen Auseinandersetzung  ■ Von Vera Gaserow

Der Morgen des 30. August 1983 verspricht einen warmen Sommertag. Wenige Stunden später ist der Tag ein Datum. An diesem Tag geschieht etwas Ungewöhnliches für deutsche Verhältnisse: für einen Moment taucht aus einer „Flut“ ein Mensch auf. Aus einem „Problem“ wird eine Person – eine Person mit einem Namen und einem Gesicht. Der Name geht am Abend durch alle Fernsehnachrichten, da liegt das Gesicht schon zertrümmert auf einem Rasenflecken. Am 30. August 1983 hat sich der Asylbewerber Cemal Altun aus Angst vor einer Auslieferung an die Türkei in die Tiefe gestürzt. Noch am Abend desselben Tages versammeln sich spontan Tausende zu einem Trauerzug in der Berliner Innenstadt. Die Bundesregierung sieht sich genötigt, ihr Bedauern „über den tragischen Vorfall“ zu äußern.

Das letzte Augustwochenende 1992 bringt diese Sommernächte, in denen es niemanden nach Hause zieht. Die Bürger Rostocks zieht es vor die Asylunterkunft in Lichtenhagen. Neun Jahre nach Cemal Altuns Tod wird wieder demonstriert: mit Steinen, Brandsätzen, Knüppeln und Rufen: „zündet sie an, die Asylantenschweine“. Nur in letzter Minute entkommen hundert eingeschlossene Vietnamesen dem Feuer. Zu diesem Zeitpunkt hat das Bundeskriminalamt schon weit mehr als 3.000 gewalttätige Angriffe auf Ausländer innerhalb eines Jahres registriert. Politiker äußern Verständnis für die Motive der Brandstifter.

Etappen einer politischen Auseinandersetzung, die seit fast 20 Jahren die deutsche Innenpolitik durchzieht – in immer kürzeren Zyklen. Eine Auseinandersetzung, die mit immer gleichen Argumenten geführt wird und in immer gleicher bürokratischer Unfähigkeit und -tätigkeit endet. Neuauflage im nächsten (Wahl-)Jahr garantiert. Eine Auseinandersetzung mit durchsichtigen Taschenspielertricks um Zahlen, Anerkennungsquoten, Aufnahmekapazitäten und unverdeckter Demagogie. Schlagzeilen, die – im wahrsten Sinne des Wortes – anfeuern. Etappen einer Auseinandersetzung, in der zwar vieles gleich geblieben ist, die Koordinaten sich aber beharrlich in eine Richtung verschoben haben: Nach fünfzehn Jahren schrittweiser Durchlöcherung des Asylgrundrechts ist der Boden für seine Abschaffung bereitet, zwölf Jahre nachdem das Wort „Asylant“ erstmals im deutschen Sprachgebrauch auftaucht, rangiert das „Asylantenproblem“ an der Spitze aller Sorgen, die die Deutschen zu haben glauben.

Wann begann es, daß die Deutschen die „Asylanten“ zu ihrem Problem machten und die „Asylanten“ fortan ihr Problem mit den Deutschen bekamen?

Anfang der siebziger Jahre weisen Politiker und Medien zum erstenmal auf ein Dilemma hin: Im bayerischen Zirndorf ist die bis dahin bundesweit einzige Unterkunft für Asylbewerber heillos überlastet. Nachdem in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem Menschen aus dem Ostblock geflüchtet sind, suchen jetzt immer mehr Menschen aus der Dritten Welt Schutz unter dem Dach des deutschen Asylrechts.

1973 beschließt die Bundesregierung eine Zuzugssperre für Ausländer. Nach Jahren der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte wird die Grenze dichtgemacht. Das Asylrecht wird die einzige legale Eintrittskarte in das Wirtschaftswunderland Deutschland. Ganze 9.424 Asylanträge verzeichnet die Statistik im Jahr 1974, doch da die Zirndorfer Unterkunft aus allen Nähten platzt, ist ein Problem geboren. Die Politiker „lösen“ es so, wie sie es in den folgenden Jahren immer wieder tun werden. Sie beschließen Abhilfe, aber lassen die notwendigen praktischen Maßnahmen fehlen: kein Geld, kein Personal, kein Platz. Erst vier Jahre später, 1978, verständigen sie sich auf einen Schlüssel, nach dem neu ankommende Asylbewerber auf die einzelnen Bundesländer verteilt werden.

Von 1976 bis '78 verdoppelt sich die Zahl der Asylbewerber. Die FAZ sichtet eine „ausschließlich auf Gewinnsucht organisierte Einwanderung von Pakistani“ auf dem Asylweg. Die Süddeutsche Zeitung titelt 1978: „Mißbrauchtes Asylrecht gerät zum sozialen Sprengstoff“. Die Statistik meldet gerade mal 33.000 Asylbewerber, die meisten Deutschen haben bisher keinen zu Gesicht bekommen.

1978 debattieren die Bonner Parlamentarier erstmals öffentlich, ob die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes es wirklich ernst meinten, als sie dem Asylrecht Verfassungsrang gaben. Dieses Votum wird zwar noch nicht in Frage gestellt, aber man diskutiert – wie später noch unzählige Male – eine Beschleunigung der Asylverfahren. Im selben Jahr taucht die Wortschöpfung „Asylant“ zum erstenmal in einigen Lokalzeitungen auf. Wenig später gehört sie – meist mit dem Zusatz „Schein-“ oder „-flut“ versehen – zum gesicherten Sprachschatz der Deutschen und ihrer Medien.

1980, es ist das Jahr des Militärputsches in der Türkei, übersteigt die Zahl der Asylbewerber erstmals die 100.000-Grenze. Politiker suchen einen Schuldigen und finden den Artikel 16 Grundgesetz. Erste Stimmen zur Einschränkung des Grundgesetzes werden laut. Das „Asylproblem“ wird Wahlkampfthema. Erst als in Hamburg zwei vietnamesische Flüchtlinge bei einem Brandanschlag auf ihre Unterkunft getötet werden, stoppt die Wahlkampfschlacht auf dem Rücken der Schwächsten. Schon damals schreibt der Berliner Oberverwaltungsrichter Dr. Fritz Franz den Politikern ins Stammbuch: „Die gegenwärtige Krise des Asylrechts ist nicht durch politisch Verfolgte (...) ausgelöst worden. Sie ist die Folge eines Einwanderungsdrucks zu Arbeitszwecken, der seit dem Anwerbestopp verstärkt auf der BRD lastet. Die Exekutive hat es versäumt, dem mit adäquaten Mitteln zu begegnen. (...) Für das Einwanderungsland Bundesrepublik ist die zentrale Steuerung voraussehbarer künftiger Einwanderungen unausweichlich.“

Doch die Exekutive steuert nicht, sie hupt zur Abschreckung. Um „wirtschaftliche Anreize zu vermeiden“, wird 1980 ein einjähriges Arbeitsverbot für alle Asylbewerber verhängt. 1982 wird es auf zwei Jahre erhöht, 1986 auf fünf Jahre. Erst Jahre später gestehen auch CDU-Politiker ein, daß das Arbeitsverbot zwar keinen einzigen Asylbewerber abgeschreckt, dafür aber die Sozialhilfekosten in die Höhe geschraubt hat. Als das Arbeitsverbot 1991 klammheimlich fällt, da hat sich in den Köpfen der Bevölkerung längst eingefressen, „daß die Asylanten nur rumlungern und auf unsere Kosten ihre ganze Sippe ernähren“.

Von 1980 bis '83 sinkt die Zahl der Asylbewerber wieder auf nahezu 20.000 pro Jahr. Doch einmal alarmiert, bereiten die Politiker die Aushöhlung des Grundrechts vor. Mit Asylverfahrensgesetzen, Verordnungen und zwischenstaatlichen Absprachen wird der Zugang zur BRD erschwert. Während in Sri Lanka, Äthiopien und Afghanistan Bürgerkrieg herrscht, wird eine Visumpflicht gerade für diese Länder eingeführt.

1982 wird ein weiteres Abschreckungspaket beschlossen. Das 2. Asylverfahrensgesetz sieht vor, Flüchtlinge in Sammellagern unterzubringen, die Sozialhilfe zu kürzen und möglichst nur noch als Sachleistung auszugeben. Kindergeld, Wohngeld, Weihnachtsgeld, Sprachkurse – alles gestrichen. Asylbewerber dürfen das Territorium ihres verordneten Wohnortes nicht mehr verlassen. Schon zwei Jahre später ist deutlich, daß dieses Abschreckungspaket nicht wirkt. Die Statistiken melden wieder knapp 100.000 Anträge. Berechnungen zeigen: der Verwaltungsaufwand für die Ausgabe von Sachleistungen an Asylbewerber schafft wesentlich höhere Kosten als Barauszahlungen. Das Bundesverwaltungsgericht verbietet eine pauschale Kürzung der Sozialhilfe. Die Betreiber von Sammelunterkünften lassen sich aus Steuergeldern die Nasen vergolden. Keine der beschlossenen Abschreckungsschikanen wird zurückgenommen. Sie durchziehen die Asyldiskussion bis heute, denn sie sind das einzige, was den Politikern einfällt.

1986 – es ist wieder Wahljahr – titeln die Zeitungen wie im Jahr 1992: „Das Boot ist voll!“, „Raus mit den Scheinasylanten“, „Stoppt endlich den Asylantenstrom“ (Quick). Helmut Kohl erklärt zur Eröffnung seines Bundestagswahlkampfes, Fremdenhaß werde durch die Zustände produziert, wie sie in den Dörfern und Gemeinden herrschen. Wer die Zustände produziert hat, sagt er nicht.

Die CSU drängt ihre Schwesterpartei CDU massiv zur Grundgesetzänderung. Franz Josef Strauß fordert, der Artikel 16 solle nur noch für Flüchtlinge aus den Ostblockstaaten gelten. Daß ausgerechnet diese Gruppe sechs Jahre später den größten Teil der Asylbewerber stellt, wird er nicht mehr erleben.

1986 sichert ein Finanzdeal unerwartete Schützenhilfe. Die DDR verspricht, das „Asylschlupfloch“ Berlin zu stopfen. Der „antiimperialistische Schutzwall“, die „Schandmauer“ wird zum vollkommenen Bollwerk gegen die „Asylantenflut“. Doch die Flüchtlinge finden andere Wege.

Auch die CDU tastet sich an eine Grundgesetzänderung heran. Hauptkronzeuge für diese Bestrebungen: die steigende Zahl der Flüchtlinge, die in einem umgekehrten Verhältnis zu den Anerkennungsziffern steht. Was die Protagonisten dieser Asylrechtsänderung verschweigen, legen Menschenrechtsorganisationen, Kirchen und Wohlfahrtsverbände in unzähligen Gutachten dar: die Statistiken sind nach oben manipuliert. Sie enthalten u.a. die große Gruppe der Flüchtlinge, die auch nach einer Grundgesetzänderung aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden dürfen. Und die niedrigen Anerkennungsquoten sind teilweise hausgemacht. Sie sind einer Rechtsprechung geschuldet, die Schritt für Schritt das Grundgesetz ad absurdum führte. 1980 entschied das Bundesverwaltungsgericht, daß deutsches Asyl nicht vor den politischen Folgen eines Bürgerkrieges schützt. 1983 klammerte dasselbe Gericht eine weitere Gruppe aus dem Kreis der politisch Verfolgten aus: Anhänger separatistischer Bewegungen, die von der staatlichen Armee verfolgt werden, 1985 schließlich wurde hierunter auch die Zivilbevölkerung subsumiert, die Opfer staatlicher Vergeltungsschläge gegen Befreiungsorganisationen wurde. Im selben Jahr urteilte ein Oberverwaltungsgericht, daß staatliche Folter nicht unbedingt ein Asylgrund sei.

Als 1989 die Berliner Mauer fällt, die sozialistischen Systeme Osteuropas zerbröseln, Großdeutschlands östliche Nachbarn in wirtschaftliches Chaos und Bürgerkrieg sinken, steigt die Zahl der Asylbewerber auf Rekordhöhe an. Zermürbt von jahrelangen Verteidigungskämpfen, selbst überrumpelt von der großen Flüchtlingszahl und schwer zu bewältigenden Unterbringungsproblemen, ratlos angesichts einer ungezügelten Aggressivität innerhalb der Bevölkerung, geraten die Befürworter eines freizügigen Asylrechts immer mehr in die Defensive. „Stalingradmentalität der Linken“, polemisiert der Frankfurter Multikulti- Dezernent Dany Cohn-Bendit gegen das Festhalten am Grundgesetz. Die SPD kapituliert vor diesem „Stalingrad“ und gibt im Sommer 1992 ihre prinzipielle Zustimmung zu einer Grundgesetzänderung.

Sommer 1993: Das von der SPD als Gegenleistung zur Grundgesetzänderung geforderte Einwanderungsgesetz ist immer noch nicht verabschiedet. Das Gros der Flüchtlinge in der Bundesrepublik kann aus humanitären Gründen nicht in seine Heimat abgeschoben werden. Die verkürzten Asyl- und Abschiebungsverfahren sind aus personellen und organisatorischen Gründen bisher nicht in die Praxis umgesetzt worden. Die Bürgerkriegsflüchtlinge sind aus der Asylstatistik hinausdefiniert worden – nur haben sie sich dadurch nicht in Luft aufgelöst. Das „Asylantenproblem“ ist gelöst, nur die Menschen sind noch da – und sie kommen weiter.