■ Straßburger Schule im Lebensrhythmus von Sinti und Roma: Staatliche Schule für fahrende Leute
Straßburg (AFP) — „Allein kann mein Vater die Schilder nicht lesen. Er weiß dann nicht, ob es nach Paris hier lang oder da lang geht“, berichtet der 12jährige Patchino, der die Schule für fahrende Leute in Straßburg besucht. In diesem Sommer sprang der Junge bereits oft ein und entzifferte die Schriftzeichen für seinen Vater. Lesen und Schreiben können, das ist für Patchino wie für die anderen 70 Kinder aus Sinti- und Romafamilien, die zusammen in die Straßburger Schule gehen, das wichtigste Lernziel — und auch das schwierigste. Denn während die Kinder in ihren Familien bereits den Umgang mit Geld und Zahlen gelernt haben, können sie oft nur gebrochen Französisch, gerade so viel, wie sie auf der Straße mitbekommen konnten. Mit ihren Eltern sprechen die meisten von ihnen Sintiza und einige Romani.
„Wer des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist, der kann sich mit Ämtern nicht auseinandersetzen, kann keine offiziellen Anträge auf Stellplätze für Wohnwagen ausfüllen, der existiert für die Behörden einfach nicht“, erzählt Dominique Steinberger, der selbst Sinto ist und an der Schule die Rolle eines „Vermittlers zwischen zwei Kulturen“ spielt. Die Erfahrung der Hilflosigkeit wollen viele Eltern ihren Kindern ersparen. Deshalb suchen sie nach einer Möglichkeit, um ihnen die nötige Ausbildung zu verschaffen. In traditionellen Schulen jedoch haben die Kinder kaum eine Chance, dem Unterricht zu folgen. Die Ferien stimmen nicht mit dem Reiserhythmus der Sinti und Roma überein. Die Kinder fehlen häufig und verlieren den Anschluß.
Die Straßburger Schule — eine staatliche Ausbildungsstätte — stellt sich dagegen auf die Gewohnheiten der fahrenden Leute ein. Von April an ziehen die Familien von einem Wallfahrtsort zum nächsten, treffen sich im elsässischen Brumath oder im lothringischen Metz, nach einem ihnen eigenen Zeitplan. Manchmal geht die Fahrt auch weiter, bis nach Südbelgien oder gar bis nach Lourdes in Südfrankreich oder bis nach Rom. Erst im Oktober kehren die etwa 80 Wohnwagen nach Straßburg zurück, wobei ein genaues Datum nicht festgelegt ist. Während des Winters leben die Familien auf zwei Stellplätzen in Straßburger Vororten, so daß die Kinder die Schule besuchen können.
Natürlich ist für diesen Ausbildungsrhythmus Geduld notwendig: Jeden Herbst muß wiederholt werden, was im Jahr zuvor bereits behandelt wurde. „Die Kinder vergessen den Sommer über fast alles“, klagt Steinberger. In den Wohnwagen, die sie mit Eltern und Geschwistern teilen, gibt es keinen Platz zum Lernen. Die Eltern haben zudem häufig wenig Verständnis dafür, daß ihre Sprößlinge so lange üben müssen, um endlich lesen und schreiben zu können. „Sie meinen, das ist in drei Monaten getan.“ Damit die Kinder künftig während des Sommers ihre Bücher nicht mehr ganz vergessen, soll vom nächsten Jahr an ein Schulwohnwagen den Familien folgen, die im Elsaß unterwegs sind.
Die Kinder fühlen sich sichtlich wohl in „ihrer“ Schule. Der sonst übliche Drill herrscht hier nicht. Die Kleinen dürfen sich komplizierte Sachverhalte gegenseitig in ihrer Muttersprache erklären. Nachmittags müssen sie nicht mehr pauken, sondern sie können sich austoben oder zusammen malen und musizieren. Eine vom Staat bezahlte Berufsausbildung brauchen die zwischen 6 und 15 Jahre alten Schüler nach Ansicht Steinbergers nicht. Darauf solle auch die Straßburger Schule nicht hinführen. „Die Kinder lernen in ihren Familien den Beruf der Väter, die zumeist Händler sind.“ Ziel des Unterrichts sei es vielmehr, daß die Schüler ihre Kultur beibehalten können. Susanna Dörhage
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