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Brazauskas will Koalition bilden

■ Litauische Reformkommunisten gewinnen absolute Mehrheit/ Sajudis verliert zwei Drittel der Mandate/ Eigenstaatlichkeit steht nicht zur Debatte/ Wahlkommission: Keine KGB-Mitarbeiter ins Parlament

Wilna (AP/afp) – Die litauischen Wähler haben bei der ersten freien Parlamentswahl seit der Unabhängigkeit der baltischen Republik für eine radikale Umkehrung der politischen Kräfteverhältnisse gesorgt. Nach den gestern veröffentlichten vorläufigen Ergebnissen der Stichwahl sicherten sich die in der Demokratischen Arbeiterpartei zusammengeschlossenen früheren Reformkommunisten mit insgesamt 79 Mandaten die absolute Mehrheit im 141 Sitze zählenden Parlament. Die Sajudis-Bewegung, die Litauen vor zwei Jahren in die Eigenstaatlichkeit führte, zieht statt mit 97 nur noch mit 35 Abgeordneten ins Parlament ein.

Ungeachtet seiner absoluten Mehrheit will der Führer der Arbeiterpartei, Algirdas Brazauskas, eine Koalitionsregierung bilden. Der ehemalige KP-Chef erklärte gestern vor Journalisten, daß es bereits Verhandlungen mit Vertretern anderer Parteien gebe. Nähere Angaben machte er zunächst nicht. Brazauskas bekräftigte, seine Partei wolle keine Rückkehr zu einer sozialistischen Wirtschaftsordnung. Die marktwirtschaftlichen Reformen sollten unter besserer sozialer Absicherung fortgesetzt werden.

Präsident Vytautas Landsbergis (Sajudis) gestand gestern auf einer Pressekonferenz seine Niederlage ein. Gleichzeitig lehnte er erneut eine Koalition mit der Arbeiterpartei ab. Dies sei nur im Falle einer ausländischen Intervention denkbar, erklärte er.

Wie der Leiter der Wahlkommission, Vaclovas Litvinas, mitteilte, errang die Arbeiterpartei bei der Stichwahl am Sonntag 35 der 61 noch nicht entschiedenen Mandate. Im ersten Wahlgang vor drei Wochen hatte sie 44 Sitze gewonnen. Sajudis erhielt im ersten Wahlgang 18 und im zweiten 17 Mandate. Auf ihre Kosten teilen sich die Christdemokraten, Sozialdemokraten und die Polnische Union die verbleibenden Sitze. Die Wahlbeteiligung lag im ersten Wahlgang bei siebzig und bei der Stichwahl bei sechzig Prozent.

Die erdrutschartigen Sajudis- Verluste von fast zwei Dritteln der Mandate werden auf die weitverbreitete Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage Litauens zurückgeführt. Ein 50jähriger Bauarbeiter, Romas Mikschenis, brachte die Stimmung unter den WählerInnen auf den Punkt: „Wir wollen besser leben. Vielleicht können die Kommunisten etwas tun. Wir werden sehen.“

Im Wahlkampf hatte die von Landsbergis geführte Sajudis den Exkommunisten vorgeworfen, sie würden die Unabhängigkeit des Landes zur Disposition stellen. Brazauskas hatte dies jedoch zurückgewiesen: „Wir werden niemals unsere Eigenstaatlichkeit aufgeben. Das steht nicht zur Diskussion.“ Er erklärte, im Verhältnis zu Rußland müsse Litauen aber auch zu Kompromissen bereit sein, um beispielsweise Erdöl zu vernünftigen Preisen beziehen zu können. Wegen Energiemangels sitzen viele LitauerInnen in diesem Winter in kalten Wohnungen. „Was sollen wir tun, den ganzen Winter frieren?“ fragte er mit einem Seitenhieb auf die kompromißlose Haltung der Sajudis.

Das neue Parlament soll innerhalb von zehn Tagen zusammentreten. Entsprechend der neuen Verfassung, die parallel zum ersten Wahlgang am 25. Oktober in einer Volksabstimmung angenommen wurde, finden innerhalb der folgenden zwei bis vier Monate Präsidentschaftswahlen statt. Nach dem Willen der Wahlkommission sollen im neu gewählten Parlament keine Abgeordneten sitzen, die der Mitarbeit beim früheren sowjetischen Geheimdienst KGB verdächtig sind. Das hatte die Kommission am Sonntag während der Stichwahlen entschieden.

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