Somnamboulevard – Plädoyer für den Krieg Von Micky Remann

Emil Szittya zeichnete den Traum eines Franzosen auf, der 1944 vor den Deutschen floh:

„Ich bin von Lärm aller Art umgeben. Irgend jemand zerstampft ein Dorf zu Püree, und die Landschaft verliert alle ihre Farben. Ein Schatten löst sich aus einem Felsen, und indem ich ihn betrachte, wird mir klar, daß es sich nicht um einen Felsen, sondern um eine dichtgeballte Masse von Soldaten handelt. Ich versuche, mich mit einem von ihnen zu unterhalten, und plötzlich tötet man einen Hahn, der gerade etwas singt. Sein Gesang erweckt allerdings den Eindruck, als habe der Sänger Zahnweh. Eine Hand in einem Zwirnhandschuh streut Hühnerfutter auf die blutende Erde. Ich denke an Anima, ohne zu wissen, wer sie ist. Meine Mandeln schmerzen. Eine neue Explosion bricht los. Ich ziehe einen Spiegel aus der Tasche. Ich sehe mich darin und erkenne, daß ich im Begriff bin, mich selbst zu zerstückeln.“

In ihrem Bedürfnis nach Reifung durch Risiko sind Menschen bereit, sich durch die erstaunlichsten Bredouillen zu schleusen: Drachenfliegen im Hurrikan, Nebelfahrten auf der Autobahn, Überdosis von diesem und jenem, Plutonium-Konfetti auf allen Weltmeeren und eben Krieg, jenes kollektive Kavaliersdelikt, das die beste Gewähr für ein Adrenalinvollbad der Überseele bietet. Auch wenn das Einzelbewußtsein lammfromm behauptet, dergleichen nie gewollt zu haben, fällt doch auf, daß dieses Wollen am Gesamtergebnis nichts geändert hat. Ein knieschlotternder Gruß aus Haß und Trostlosigkeit, ein tête-à-tête mit Qual und Zerfleischung scheinen – bisher – zu unserem archetypischen Energiehaushalt zu gehören wie Sodom zu Gomorrha. Drum wird auch auf dem Somnamboulevard, der keine Umgehungsstraße der Conditio humana ist, sondern in ihr Zentrum führt, Krieg geführt, und das nicht zu knapp. Dabei gehen die Detonationen, Schüsse und Schmerzen im Traum-Sarajevo tiefer als die Bilder auf der Mattscheibe, denn während sich die Leichen im TV wegzappen lassen wie die Margarinewerbung, ist das im „echten“ Kriegstraum so wenig möglich wie im „echten“ Krieg.

Gut so! Denn da der eine so real empfunden wird wie der andere, heißt unser Plädoyer: Schlagen wir unsere Schlachten doch gleich auf dem Somnamboulevard, statt uns an die physische Gurgel zu gehen. Hier, im Intensivlabor der Psyche, sind die fantastischsten Militärs willkommen, hier gehören sie hin. Hier ist genug Platz, es mangelt nicht an Blut und Dynamit, Sieg und Untergang, und was der metzelnde Traumkörper durchlebt und durchbebt hat, kann der Wachkörper sich und anderen ersparen. Waffengewalt außerhalb des Traumes ist und bleibt ein dämlicher Irrtum, forget it! Lang lebe der somnambule Krieg, der tiefer ins Mark von Leben und Tod geht als ein Videospiel und gesünder ist als ein Frontkampf. Im Wachzustand zu schießen und erschossen zu werden ist keine Kunst; wer Mut hat, prüfe ihn auf dem Kriegsschauplatz des Bewußtseins. Jene, die sterben, bevor sie sterben, sterben nicht, wenn sie sterben, sagt Jakob Böhme. Die den Krieg träumen, ohne ihn zu führen, brauchen keinen, um ihn zu erleben.