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Embargo-Verschärfung in Kraft

■ Bürgermeister von Tuzla nach Giftgasalarm vom Wochenende: Kein Chlorgas entwichen / Nato-Flotte setzt seit gestern Verschärfung der UN-Sanktionen durch / Kämpfe in Bosnien halten unvermindert an

Zagreb/Brüssel/Sarajevo (AFP/ dpa) – Aus der Chemiefabrik in der nordbosnischen Stadt Tuzla ist am Samstag entgegen ersten Berichten offenbar doch kein Chlorgas entwichen. Der Bürgermeister von Tuzla, Selim Beslagic, widersprach nach einem Bericht der in Zagreb erscheinenden Tageszeitung Novi Vijesnik den Darstellungen vom Wochenende, nach denen durch serbische Angriffe Chlorbehälter getroffen worden seien. Beslagic sagte, die von Satelliten aufgezeichnete Dunstwolke sei auf einen „kleinen Brandherd“ zurückzuführen, der von den Medien „fehlinterpretiert“ worden sei. Dadurch sei dann in der Bevölkerung Panik aufgekommen.

Der Giftgasalarm im Norden Bosniens war am Samstag ausgelöst worden. Bei einem Angriff serbischer Artillerie gegen die Industriestadt Tuzla waren in einem Chemiewerk angeblich mehrere Behälter mit hochgiftigem Chlorgas getroffen worden. Da die Behörden eine Katastrophe größeren Ausmaßes befürchteten, hatten sie ein Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern zur direkten Gefahrenzone erklärt. Über die Konzentration des angeblich ausgetretenen Gases in der Luft wurden keine Angaben gemacht. Nach Schätzungen halten sich in diesem Gebiet zwischen 100.000 und 200.000 Menschen auf. Die bei Tuzla im Einsatz stehenden Angehörigen des britischen Kontingents der Blauhelme wurden angewiesen, Näheres über das Ausmaß des Unglücks herauszufinden. Die britischen Soldaten mußten dazu Gasmasken und Schutzbekleidung anlegen.

Die bosnischen Truppen hatten schon vor Wochen angedroht, bei fortgesetzten serbischen Angriffen gegen den nördlichen Frontbogen Chlorgas als „letztes Mittel“ freizusetzen. Auf Anweisung der Regierung in Sarajevo waren die bereits an der Front aufgestellten und zur Sprengung vorbereiteten Kesselwagen und Behälter dann aber in die Industriestadt Tuzla verlegt worden, die damals noch als „relativ sicher“ galt.

Die Flotte der Nato in der Adria hat am Sonntag um 17.00 Uhr MEZ mit der Umsetzung der verschärften Sanktionen gegen Rest- Jugoslawien begonnen. Auf der Grundlage der UN-Resolution 787 dürfen Nato-Einsatzkommandos nun auch Schiffe notfalls mit militärischer Gewalt anhalten und durchsuchen. Der deutsche Zerstörer „Hamburg“ wird sich allerdings am Aufbringen und Durchsuchen der Schiffe nicht beteiligen. Bislang kontrollierten Nato und WEU in der Adria die Einhaltung des UN-Embargos lediglich dadurch, daß sie verdächtige Schiffe per Funk zur Umkehr aufriefen. In diplomatischen Kreisen in Brüssel wurde am Samstag jedoch darauf hingewiesen, daß die meisten Verletzungen des Embargos durch Lieferungen nach Serbien über die Donau entstünden. Dort will die Nato nicht eingreifen.

Trotz des vor über einer Woche proklamierten Waffenstillstandes starteten die Serben nach übereinstimmenden Angaben der UN- Schutztruppen (UNPROFOR) und des bosnischen Rundfunks in der Nacht zum Samstag eine neue Offensive auf bosnische Stellungen in Sarajevo.

Auch aus der zentralbosnischen Stadt Travnik wurden serbische Angriffe gemeldet. In Ostbosnien griffen nach einem Bericht von Radio Sarajevo serbische Einheiten die umzingelte Stadt Srebrenica an. Das serbische Oberkommando beschuldigte nach einem Bericht der Belgrader Nachrichtenagentur Tanjug seinerseits die kroatischen Verbände, den Waffenstillstand zu verletzen. Vier von Serben bewohnte Dörfer im Süden der Herzegowina seien von ihnen angegriffen worden.

Um ein Massensterben in Bosnien-Herzegowina zu vermeiden, muß die UNO nach Ansicht des UNHCR ihre Hilfslieferungen verdoppeln. Das Kinderhilfswerk UNICEF veröffentlichte eine Übersicht der bosnischen Regierung vom 10. November, nach der durch den Krieg bislang mehr als 128.000 Menschen in Bosnien- Herzegowina getötet und mehr als 132.000 verletzt wurden. Unter den Todesopfern waren nach diesen Angaben nahezu 13.000 Kinder.

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