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Krefelder Kindheit um 1970

Andreas Mands Kindheitsromane: Pubertät, Küsse und frühes Leid eines Pastorensohns in der Bundesrepublik der siebziger Jahre  ■ Von Peter Laudenbach

In seinen beiden bisher besten Büchern erzählt Andreas Mand von einer unglücklichen Figur: dem Krefelder Pastorensohn Andreas, dem Kind, das der Autor einmal war.

Mand, Jahrgang 1959, liefert ein Selbstporträt des Künstlers als kleiner Junge und das Modell für die unglücklich verstörten Beziehungen all seiner Figuren zur sogenannten Wirklichkeit. Die beiden Kindheitsbücher erzählen keine Geschichten, sie haben weder Spannungsbögen noch größere Konflikte zu bieten. Statt dessen halten sie Momentaufnahmen und kurze Episoden fest, in denen die Kindheit nicht wie in einem Brennspiegel konzentriert, sondern wie in einem Archiv aufbewahrt wird.

Den Tonfall bestimmten die gleichzeitig naiven und altklugen Versuche des Kindes, sich die Welt zu erklären. Der Leser lernt jemanden kennen, der so tut, als wüßte er über alles längst Bescheid, einen kleinen Klugscheißer, der sich dennoch mit einer ungeschützten Neugier zu wundern vermag, um die man ihn nur beneiden kann. Mand gelingt es, nicht nur Momente der Kindheit frappierend genau zu erinnern und zu erzählen, sondern dies bis in den Satzbau hinein mit der Sprache eines Heranwachsenden zu tun. Wir lesen nicht, wie ein Erwachsener von seinen Kindheitstagen erzählt, sondern folgen den vertrackten Gedankengängen Elfjähriger: „Die Großen erinnern sich immer an andere Sachen. Und immer an dieselben, natürlich! Und ich glaube nämlich gar nicht mehr, daß es so war, wie Papa sagt. Weil ich nämlich auch nicht doof bin und immer selbst dabei war. Er kann es gar nicht wissen, noch weniger als wir, er weiß es höchtens von oben.“ Weil das Kind es aber nicht „von oben“ weiß, führt es mit sanfter Selbstverständlichkeit und einer verqueren Logik die Welt der Erwachsenen ad absurdum.

Heute holt Andreas Mand schreibend seine Kindheit ans Licht, als Kind erfüllte er sich offenbar schreibend seine Wünsche: „Als ich neun war, wollte ich ein Buch schreiben. Es hieß ,Grover und Roy‘ und ging über einen Jungen, der im Dschungel lebt.“ Der erwachsene Autor tut das Gegenteil: Er erzählt keine Wunschbiographie, sondern fragt, was es mit dem ängstlichen Musterschüler von damals auf sich hat. Er berichtet, daß ihn beim Schreiben zuerst die Frage interessierte, wie er zu dem geworden sei, der er heute ist, und weshalb sich dieser Mensch so schwer ändern lasse. Dennoch hat sein Versuch, der eigenen Kindheit nachzuspüren, nichts Verquältes und nichts von der narzißtischen Betroffenheitsliteratur der siebziger Jahre. Sein nüchterner Blick, der trocken-selbstironische Tonfall und die Detailschärfe der Erinnerungen bewahrten ihn vor der selbstmitleidigen Pose der Abrechnung mit der eigenen Geschichte. Hatte man in „Grovers Erfindungen“, dem ersten der beiden Bücher (das jetzt als Taschenbuch vorliegt), den Schul- und Familienalltag, die Eltern und Geschwister des etwa zehnjährigen Andreas kennengelernt, so begegnet man in Mands zweitem „Grover“-Buch den Urlaubsfreuden des pubertierenden Knaben. Das Buch, das einen Roman zu nennen reichlich wagemutig ist, erzählt von den Ferien in einem ostfriesischen Dorf und von einem kirchlichen Zeltlager in einem Land, das damals noch CSSR hieß. Nur beiläufig kommt Zeitgeschichte in den Blick: Einmal wird Andreas in einem Laden von einem alten Tschechen nicht bedient, als der merkt, daß sein Kunde ein Deutscher ist. Ein anderes Mal „diskutiert“ der Spiegel-Leser Andreas in gebrochenem Englisch mit einem Tschechen über die Vorteile des westlichen Systems: „In my country the opposition is allowed. They are mentioned in the newspaper and in the so called Tagesschau. This is freedom.“

Weit mehr als die Weltgeschichte interessieren den Erzähler die Verwirrungen der Gefühle, die pubertären Ängste und Neugierden seines so empfindlichen wie verklemmten Helden. Klänge es nicht zu feierlich, man könnte sagen, daß Mand Bausteine, Wahrnehmungsfragmente für eine Mentalitätsgeschichte der Pubertät in den bundesrepublikanischen siebzieger Jahren liefert, vom stets präsenten „Roten“ beziehungsweise „Blauen Album“ (der Beatles, logischerweise) bis zum ersten Kuß in der Zeltlager-Disko: „Sie hat gelächelt, wie sie allerdings immer lächelt, sie ist praktisch mit einem Lächeln geboren worden. Allerdings konnte ich es nicht sehen, ob sie noch gelächelt hat, als wir uns geküßt haben. Ich hatte die Augen zu. Es war ein schönes Gefühl. Ihr Mund war ganz weich auf der Innenseite, und ich habe allerdings etwas von ihrer Spucke in den Mund gekriegt. Es war eigentümlich. Sie hat sich praktisch auf die Zehenspitzen gestellt und mich von oben geküßt. Da ist mir einiges aufgegangen.“

Das gönnen wir dem jungen Mann von Herzen. Wenn ich es richtig sehe, gelingt dieses Vermessen der Kindheit und frühen Jugend außer Mand nur einem bundesrepublikanischen Autor aus der Generation der heute etwa Fünfunddreißigjährigen mit solcher Schärfe: Uli Becker mit seinem Gedichtband „Alles kurz und klein“. Wer wissen will, wie in den siebziger Jahren die seelische Inneneinrichtung einer westdeutschen Kindheit aussah, in Mands „Grover“-Büchern kann er es erfahren.

Andreas Mand: „Grovers Erfindung“. Luchterhand Literaturverlag (Sammlung Luchterhand). Etwa 200 Seiten, 15,80DM.

„Grover am See“. Maro Verlag. 180Seiten, 24DM.

„Der Traum des Konditors“. Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstrasse. 126Seiten, 19,80DM.

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