: „Wir sind hier geboren“
Russen als Ausländer in Estland ■ Von Irena Maryniak
Helsinki in Finnland und Tallinn in Estland: übers Meer keine hundert Kilometer voneinander entfernt, waren die beiden Städte bis vor einem Jahr Tore zu zwei sehr verschiedenen Welten.
Nach Helsinki erschien mir Tallinn grau, desolat und verletzlich. Es war mein erster Besuch hier, also kaufte ich mir die englische Vierteljahresschrift für Ausländer, The Tallinn Paper. Unter der Überschrift „Greetings“ warnte sie den allzu überschwenglichen Besucher: „Ganz entsprechend ihrer eher kühlen Wesensart, küssen sich Esten weder zur Begrüßung, noch umarmen sie sich. Manchmal schütteln sie vielleicht Hände. Sollten Sie versuchen, einen Esten zu umarmen oder zu küssen, wird er vermutlich vor Verlegenheit tot umfallen.“
Diese eher zurückhaltende Seite des Nationalcharakters wird heftig kultiviert. Esten beharren darauf, von Natur aus „Individualisten“ zu sein – und meinen damit vor allem, daß die Russen, sozusagen gattungsmäßig, „Kollektivisten“ seien. Zum Beweis erzählte man mir, daß in estnischen Dörfern schon die Architektur das außerordentlich starke Bedürfnis nach Privatsphäre widerspiegelt, während russische Dörfer meist eine klaustrophobisch enge Ansammlung von Häusern seien. Legendär ist auch die Selbstdisziplin der Esten, auf die man hier sehr stolz ist. Gefühle spielen sich unter der Oberfläche ab: im Zweifelsfall herrscht, wie bei den Finnen, Schweigen.
Der jetzt in Mode gekommene Individualismus ist eine direkte Reaktion auf den kollektivistischen Geist, der dem Land durch die sowjetische Annexion 1940 aufoktroyiert wurde. Mit diesem Datum begann die Industrialisierung, und das heißt auch: der unwillkommene Zuzug russischer Gastarbeiter, die ihre Tradition eines engen Gemeinschaftslebens, ihre Spontaneität, menschliche Wärme, blühende Phantasie und beängstigende Unberechenbarkeit mitbrachten. Russen oder „russischsprachige“ Einwanderer, die 1938 lediglich zehn Prozent der Bevölkerung von Estland ausmachten (damals etwa eine Million Menschen), stellen inzwischen vierzig Prozent der Gesamtbevölkerung dar.
Man hat in Estland nicht vergessen, daß während der Kollektivierung in den vierziger und fünfziger Jahren Zehntausende von Esten deportiert und verfolgt worden sind – und daß sich bis heute russische Soldaten, die außerdem zunehmend außer Kontrolle geraten, auf estnischem Boden befinden. Ende Juli wurde ein estnischer Bürger verletzt, als russische Marinesoldaten eine Gruppe estnischer Soldaten beschossen – und dies war nicht der erste Zwischenfall, der sich zwischen russischen Soldaten und der neugegründeten estnischen Armee abspielte.
Estland wurde nach dem Augustputsch 1991 unabhängig. Fünfzig Jahre Kommunismus haben jedoch soziale Spannungen und ökonomische Widersprüche hinterlassen. Die estnische und die russischsprachige Bevölkerung leben getrennt voneinander. Die Russen haben Angst vor der Politik der „Dekolonisierung“ und dem Verlust von Bürgerrechten; die Esten sind besorgt über die weiterhin schnell anwachsende russische Bevölkerung und deren Gefährdungspotential für ihren neu gegründeten Staat: seiner Zerschlagung, womöglich mit Hilfe Rußlands.
Paradoxerweise hat die Unabhängigkeit der estnischen Kultur wenig Gutes gebracht. Die früher staatlich geförderten Schriftsteller und Künstler haben Schwierigkeiten mit den neuen Marktgesetzen und dem Absatz ihrer Produkte. Sie haben Einkommen und soziale Sicherheit verloren und sind zusätzlich Opfer einer Krise in der Verlagsbranche. Das alte Regime förderte Kulturvereine in Kleinstädten und Dörfern und verschaffte sich damit das Alibi, die Kultur des Volkes unterstützt zu haben. Diese Kulturvereine sind aus Geldmangel inzwischen größtenteils verschwunden, und die Intensität, mit der Esten früher ihre nationalen Traditionen zu Hause hochhielten, ist unter dem Druck neuer Sorgen verblaßt. Die staatliche Unabhängigkeit hat Katerstimmung ausgelöst. Ihre Folgen sind in erster Linie Armut, Frustration und Richtungsverlust.
Die estnische Sprache, früher durch die Präsenz der Deutschen und vom 18. Jahrhundert an durch die russische Herrschaft bedroht, steht jetzt in Gefahr, einer neuen Leidenschaft fürs Englische zum Opfer zu fallen. Einige Esten fürchten, daß ihre Kultur unbetrauert sterben könnte; viele Bewohner wären heutzutage lieber schwedische Staatsbürger.
Man ist über politische Aktivitäten in den mehrheitlich von Russen bewohnten Städten im Nordosten, Kohtla-Jarve und Narva, besorgt und wird auch die tiefsitzenden Zweifel am russischen Staat, er könne womöglich seiner alten Tendenz zur Ausweitung nicht widerstehen, nicht ganz los. Estland ist 1710 von Rußland geschluckt worden und seither lediglich zwanzig Jahre lang unabhängig gewesen. Sven Jürgensen von der estnischen Botschaft in Helsinki meint, Rußland könne sich zum Schutz seiner Minderheit in Estland provoziert fühlen. Er glaubt, daß in Rußland eine ähnliche Mentalität herrscht wie in Deutschland in den dreißiger Jahren, als das Dritte Reich seine Besetzung Böhmens und Mährens im Jahre 1939 für eine Schutzaktion der sudetendeutschen Minderheit ausgab.
Die dreißiger Jahre sind tatsächlich ein wichtiger Bezugspunkt. Estland versucht in vielerlei Hinsicht, vor allem aber kulturell und rechtlich, an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anzuknüpfen. Beispielsweise beruht das neue Bürgerrecht fast originalgetreu auf der Fassung von 1938. Das Bürgerrecht besitzt jeder, der vor 1940 estnischer Bürger war, sowie dessen Nachkommen. Um eingebürgert zu werden, muß man seit 1990 zwei Jahre im Land ansässig sein und die Beherrschung der Sprache nachweisen; die Bearbeitung des Antrags dauert dann noch ein weiteres Jahr. Eine doppelte Staatsbürgerschaft für Russen ist ausgeschlossen, und wer sich um Einbürgerung bewirbt, muß dem estnischen Staat Treue schwören. Alle Esten haben das Wahlrecht. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung ist jedoch nicht Staatsbürger im beschriebenen Sinne, verfügt damit noch nicht einmal über die elementarsten Bürgerrechte und ist somit von der Wahl ausgeschlossen.
Durch den Verlust ihrer früheren Position und ohne eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, die die bittere Pille versüßen könnte, fühlen sich die russischen Gemeinden gedemütigt und unglücklich. Ich hörte öfter das Wort „Apartheid“ in diesem Zusammenhang. Esten trifft man als Russe nur am Arbeitsplatz oder im Parlament.
In der populären Mythologie gelten die Einheimischen als hart arbeitend, diszipliniert, besonnen und sauber, die Russen jedoch als faul, dumm, zu überschwenglich, schmutzig und versoffen.
Viele Russen in Estland sind ungelernte Arbeiter. Nicht wenige sind Analphabeten, Gewalt ist häufiges Mittel in familiären Auseinandersetzungen. Bis vor kurzem war es für Russen nicht sehr schwierig, eine Wohnung zu bekommen, ansonsten jedoch sind sie Bürger zweiter Klasse, schlecht ausgebildet und schlecht bezahlt.
Edward Lucas von der Unabhängigen Baltischen Zeitung zieht Parallelen: „Die Katholiken in Nordirland, Schwarze im Süden der USA, Schwarze heute in Großbritannien ... In gewisser Weise wäre es einfacher, wenn die Russen schwarz wären, dann wäre das Raster, das auf dem Arbeitsmarkt herrscht, deutlicher. Zwar gibt es im Dienstleistungssektor eine Menge Russen, aber für die neuen Joint-venture-Projekte nimmt man fast nur Esten. Angeblich saufen die Russen, sind zu langsam, frech zur Kundschaft, stinken ... – ein ganzer Sack voller Erklärungen, von purem Rassismus bis zu angeblichem Pragmatismus. Ich glaube nicht, daß das, was die Esten da machen, selbst aus ihrem eigenen Blickwinkel, so schrecklich besonnen oder vernünftig ist.“
Viele der Russen, die aus einem historischen Zufall hier sind, wissen nicht, wohin sie zurückgehen könnten. „Wir sind keine Besatzer, wir sind hier geboren“, sagt Sergejew. „Was kann Rußland uns bieten? Vielleicht Arbeit in der Landwirtschaft. Aber soll man von einem Mathematiklehrer verlangen, daß er jetzt Rüben erntet?“
Nach Auskunft der Journalistin Irina Ristmägi, früher Kommunistin, betrachten sich 47 Prozent der Industriearbeiter Estlands als Russen. „Die Hälfte der Industriearbeiterschaft dieses Landes wird im eigenen Land von der Politik ausgeschlossen. Man enthält ihnen elementare Bürger- und soziale Rechte vor. Sie dürfen sich an den Privatisierungen nicht beteiligen, kein Land besitzen und keine politischen Organisationen gründen. Das ist doch nicht zivilisiert.“
An der neuen Verfassung wird insbesondere Paragraph 56 kritisiert, der vom nationalistischen „Estnischen Bürgerkomitee“ initiiert wurde und die Bürgerrechte gegen die von „Ausländern“ abgrenzt. Er ermöglicht Einschränkungen in den Bereichen politischer Organisation, freier Wahl des Arbeitsplatzes, des Zugangs zu Wohnungen und der Berechtigung auf staatliche Beihilfen. Im April 1992 drückten Vertreter der russischen Bevölkerung ihre Sorge darüber aus, daß Paragraph 56 erst Eingang in die Verfassung fand, nachdem man dem oben genannten Komitee einen Entwurf der Verfassung zur Begutachtung vorglegt hatte.
Das Konfliktpotential ist offensichtlich. Sergej Sergejew befürchtet ein neues „Nordirland“. Für die Frustration, Verunsicherung und Enttäuschung der Russen in Estland gab es bisher noch keine Stimme, die ihr öffentlichen Ausdruck verliehen hätte. „Jeder, der den Mund aufmacht, muß sich entscheiden“, meint Albert Maloverian von der Nachrichtenagentur ITAR-TASS.
„Wenn er seine ehrliche Meinung sagt, wird er als Volksfeind bezeichnet. In privaten Gesprächen mit estnischen Kollegen hört man zwar durchaus auch mal etwas anderes als die herrschende Meinung, Kritik daran, was hier passiert. Aber nicht in der Öffentlichkeit, nicht einmal im Parlament. Der Druck der radikalen Nationalisten ist meist stärker.“
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