"Gott, gib der Menschheit Vernunft"

■ Mehr als 10.000 Menschen haben in Hamburg an der Trauerfeier für die in Mölln ermordeten Türkinnen teilgenommen. In seinem Trauergebet für Ayshe Yilmaz, Yeliz und Bahide Arslan wünschte der Geistliche

„Gott, gib der Menschheit Vernunft“

Die türkischen Fahnen auf dem kleinen Platz vor der Moschee im Hamburger Stadtteil Hamm tragen keinen Trauerflor. Fast trotzig werden Halbmond und Stern in den blauen Hamburger Herbsthimmel gereckt. Transparente: „Nazis raus“, „Gegen Gewalt und Hass“, „Solidarisiert Euch, wir sind alle Menschen.“

Stunden vor Beginn der Trauerfeier haben sich Hunderte Menschen vor dem Türkisch-Islamischen Gemeindezentrum eingefunden, versammeln sich in den beiden Gebetssälen der „Ditib“- Moschee. Sie trauern beim traditionellen Freitagsgebet um die Opfer der Möllner Brandanschläge, unterhalten sich leise in kleinen Gruppen über das, was da nur 60 Kilometer von Hamburg entfernt geschehen ist. Keine Empörung, stilles Entsetzen, ein Fünkchen Hoffnung. „Vielleicht ändert sich jetzt ja was“, sagt Kanber Koyunch und weist auf die Fotos der Opfer. „Auch wenn es makaber klingt, vielleicht brauchen wir Opfer für die Wende zum Guten.“

In Hamburg schlossen viele Geschäftsleute ihre Läden

Kanber Koyunch ist Einzelhändler, lebt seit vielen Jahren in Hamburg. Wie die meisten seiner Kollegen hat er sein Geschäft an diesem Tag nicht geöffnet. Trauerzeichen haben viele gesetzt. Flaggen auf Halbmast, Mahnminuten gegen Ausländerfeindlichkeit in den Betrieben, die Demonstration von der Moschee zum Rathausmarkt, Demonstrationen auch in anderen Städten.

„Es wäre mehr möglich gewesen“, sagt Barbara Schildt, die deutschen Geschäfte hätten doch heute auch geschlossen bleiben können. An ihrem Gymnasium mußten erst die Schüler die Schulleitung darauf bringen, daß man doch zur Trauerfeier gehen könnte. Die Lehrer haben eingewilligt, aber nur für die volljährigen Schüler, der Rest mußte bleiben. Aus versicherungstechnischen Gründen.

Geblieben ist auch Helmut Kohl. In Bonn. Sein Regierungssprecher gibt Termingründe an. Der Berliner Parteitag zum Beispiel. Und: Trotz der Absage könne es keine Zweifel geben an der „Betroffenheit des Kanzlers“. Fehlt er in Hamburg? „Nein, nein“, sagt ein junger Türke, „das wäre doch ganz unglaubwürdig gewesen.“ Von Weizsäcker – ja das hätte er gut gefunden.

Die Leichenwagen fahren vor. Verwandte, Freunde tragen die schlichten Holzsärge vor das Gemeindezentrum, schmücken sie mit türkischen Fahnen, nehmen hinter den Särgen Aufstellung. Verweinte, traurige, entschlossene Gesichter. Und wütene.

„Wir werden unsere Rache nehmen“, ruft einer der Freunde der Opfer von Mölln. Die Stimme kollabiert, der Mann ist verzweifelt, wird schließlich von einem Bekannten beruhigt und in das Gemeindezentrum geführt.

Von Trauer, Entsetzen, Abscheu spricht später Norbert Blüm in seiner Trauerrede. Wäre er ein wenig früher gekommen, er hätte sehen können, wie das aussieht. Blüm ist neben Klaus Kinkel der einzige Minister, der an der Trauerfeier teilnimmt. „Wir wollen keine alten Nazis, wir wollen keine neuen Nazis, wir wollen überhaupt keine Nazis“, ruft der Arbeitsminister den über 10.000 Menschen zu, die an der Trauerfeier teilnehmen. Er erhält Beifall, genau wie der türkische Parlamentarier, der die beiden deutschen Minister daran erinnert, daß sie spätestens nach Mölln das Recht verloren hätten, die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei anzuprangern.

„Wir alle sind beschämt, daß das passieren konnte“, sagt Renate Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. „Und wir versprechen Ihnen, daß sich dieses nicht wiederholt, und wir werden die Täter, die dies tun, finden. Wir müssen zusammenstehen und die Demokratie gegen den rechtsradikalen Mob verteidigen“, erklärt sie.

Können die Trauernden daran glauben? „Nein“, sagen Nabef und Sakine, „wir glauben das nicht.“ Im Gegenteil. „Es wird schlimmer werden, das kann sich nicht mehr ändern.“ Für die beiden Fremdsprachenschüler ist es zu spät, genau wie es für die Arslans und die Yilmaz in Bonn zu spät war.

Ein Grund für die Hoffnungslosigkeit mancher Kundgebungsteilnehmer ist das Versagen der Bonner Regierung, trotz der vielen Zeichen, die es schon gegeben hat. „Erst Bergedorf, dann Hoyerswerda, dann Rostock, jetzt Mölln“, steht auf einem Transparent. Die Zeichen gab es schon lange, „und niemand“, so klagt Nasef, „hat etwas getan.“

Nach der Trauerfeier forderte Norbert Blüm Deutsche und Türken zu einem „Bündnis der Menschlichkeit und Humanität“ auf. „Wir wollen uns an den Särgen der Ermordeten versprechen, daß wir Freundschaft gegen Haß setzen“, sagte er.

Aus Ankara kam ein Beileidstelegramm. Ministerpräsident Turgut Özal forderte die Verfolgung und umgehende Bestrafung der Täter. Trotzdem ist Özal optimistisch, daß die deutsch-türkische Freundschaft stabil bleibt. Der türkische Ministerpäsident Süleyman Demirel zeigte sich in einem Telegramm zuversichtlich, daß sich die deutschen Behörden um eine rasche Aufklärung des Falls bemühen.

Der türkische Botschafter in Bonn, Onur Öymen, forderte in seiner Trauerrede, ein Begegnungszentrum zwischen Deutschen und Türken in Mölln einzurichten. Mit dem Möllner Bürgermeister hat er schon darüber gesprochen. Uli Exner, Hamburg