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Fünf Geschichtenerzähler

Viel Gemischtwarenhaftes und die „Cabaret Jazz“-Reihe als heimliche Sensation: Das diesjährige JazzFest Berlin  ■ Von Carlo Ingelfinger

Wer macht das Berliner Jazzfest? George Gruntz. Wer ist George Gruntz? Seinen Platten nach zu schließen ein erfindungsreicher, wandlungsfähiger Keyboarder, Arrangeur und Komponist mit einem hochentwickelten Sinn für jeweils aktuelle Trends: vom Barockjazz bis zum HipHop; seinen Pressekonferenzen nach zu schließen ein jovialer „künstlerischer Leiter“, langjähriger und redseliger Egomane, der jedwede Programmgestaltung als wegweisende Novität verkauft: seien es „Programmschienen“ (die Technik, eigentlich Zusammenhängendes auf die verschiedensten Konzerte zu verteilen), sei es gerade der Verzicht darauf, sei es schließlich die Eröffnung eines Gemischtwarenladens, der ein Jazzfestival mit guten Gründen nun einmal ist. Ein Hang zum Maultrommeln ist spürbar, der offenbar als Jazz-Variante des grassierenden Hauptstadtsyndroms zu verstehen ist: Neu muß es sein auf dem Festivaljahrmarkt, auch wenn es alt ist.

Doch Gruntz sei Dank geht's gelegentlich auch 'ne Nummer kleiner. Die verborgene Perle des diesjährigen JazzFests war eine wunderhübsch altmodische kleine Reihe im Philharmonie-Anbau „Musikinstrumentenmuseum“. Fünf Geschichtenerzähler präsentierten in jeweils einstündigen Sets „Cabaret Jazz“: Songs aus Bars, Nachtclubs, den Räumen hinter Türstehern und Plüschvorhängen, wo im Spotlight der kultivierte, weltweise, sarkastische Entertainer mit intimer Stimme und voll Wortwitz milde Mittelklassenprobleme, politics und Beziehungskisten glossiert. Songs, die für den Augenblick geschrieben sind und sich doch wie mit Widerhaken im Gedächtnis verfangen. Eine ganze Song-Kultur hat hier ihren Ursprung – und ein wichtiger Nebenstrang des Jazz.

Fünf Herren in den besten Jahren waren zu Besuch, die hierzulande selten zu hören, nie aber innerhalb von nur drei Tagen zu vergleichen waren. Spotlight auf Mose Allison und sein Trio! Ein 65jähriger, kleiner, hakennäsiger Graubart aus dem Mississippi-Delta, der in den Fünfzigern nach New York City ging. Sein Klavierspiel: ein ständiger Wechsel zwischen Wirbeln und Fließen – mächtige parallele, pedalgetragene Oktavakkorde gegen trockene, auf bluesigen Rhythmen und modernen Harmonien basierende eng geführte beidhändige Läufe. Seine Stimme: näselnd, distanziert. Seine Songs: voll ironischer Melancholie und der resignierten Einsicht, daß dieses Leben eigentlich nicht auszuhalten ist, Selbstmord sich aber einfach nicht lohnt. Einverstanden?

Es tritt auf: Michel Legrand, sicherlich der untypischste Vertreter des Genres: Filmkomponist (drei Oscars), Jazzpianist, Arrangeur, Dirigent und Schloßbesitzer, ein freundlicher kleiner Mann mit buschigen Augenbrauen hinter einer Hornbrille. Seine Interpretationen neigen zum Romantischen, schrecken vor Pathos und Kitsch nicht zurück: mächtiges Aufwallen der Gefühle, das er aber allemal durch leise Wendungen seiner hellen, dünnen Stimme, durch gepflegtes, swingendes Modern-jazz- Spiel mit kraftvollem Anschlag abfängt.

David Frishberg wiederum, ein bißchen an Woody Allen erinnernd, ist ein Prototyp der Szene. Humorvoll und anekdotenreich spielt er mit dem Jazzrepertoire seit den zwanziger Jahren – und dem Publikum. Seine Ansagen schaffen Intimität, seine Songs haben urbanen Witz und Wärme. Er schildert das Handwerk des Songschreibers: Wie zum Beispiel den Auftrag von CBS-TV erfüllen, für einen Videoclip zu den Olympischen Winterspielen headline news der letzten vier Jahre in einem kurzen Song unterzubringen? Frishberg setzt sich den Textrahmen, einem Außerirdischen diesen verrückten Planeten Erde erklären zu müssen, und schon machen die Ereignisse wie von selbst einen absurden Reim auf sich selbst: der Fall der Mauer, der Krieg gegen Saddam Hussein, die Kaperung Noriegas, Madonnas Allüren und Natalie Coles Plattenduett mit ihrem seit dreißig Jahren toten Vater Nat King Cole – so leicht ist das, so schwer ist das.

„Du kannst nicht den Baß spielen und singen zugleich, du kannst nicht Töne suchen und Texte memorieren zugleich, und Gott... ah, Göttin weiß: Das geht einfach nicht“, singt Jay Leonhardt, und natürlich spielt er den Baß dazu. Der schlaksige Vierziger mit dem wachsamen Mienenspiel begleitet seine Songs (und seine Baßsoli) mit seiner ein bißchen belegten Stimme, die auch zu zungenbrecherischer Hast fähig ist. Seine Songs erzählen gern vom Musikeralltag: er mit Leonard Bernstein im Flugzeug – und keine Postkarte vom Meister seitdem! –, auch die Party der upper class brazil im Dschungel, wo er seine Lieder singen durfte. Oft schimmert eine Ahnung alltäglicher Schizophrenie durch. Leonhardt spielte mit seinem Quartet ausgedehnte Improvisationen. Fesselnd der ungemein weiche und wahnsinnig schnelle Flügelhornist und Trompeter Marvin Stamm, einer der unbesungenen Großen dieser Instrumente (Wie wär's mit einem Song für ihn, Mr. Leonhardt?), stürmisch der an Oscar Peterson geschulte junge Pianist Ted Rosenthal.

Der jüngste der fünf ist, mit 39 Jahren, Ben Sidran, hochgeschätzter Jazzanalytiker, Musikwissenschaftler, Pianist, Produzent. Er kommt als einziger mit einer message ins Deutschland nach Rostock und Mölln, paraphrasiert Pastor Niemöllers Zeilen „Sie holten die Kommunisten, ich habe geschwiegen... Sie holten die Zigeuner, ich habe geschwiegen“; er singt „Nardis“, ein Lied über seinen aus Rußland geflohenen Vater. Zum ersten Mal spielte Sidran in Berlin mit dem Tenorsaxophonisten Bob Malach zusammen, ein Duett ohne Baß und Schlagzeug, in dem jede Unsicherheit hörbar ist und einige Ausrutscher beiden mächtig Spaß machen: „Im Jazz gibt es keine Versehen, nur Chancen“, kommentiert Insider Sidran.

Ein Vergnügen mit Hintersinn, diese kleine Reihe, ein vollkommener Genuß ohne bitteren Nachgeschmack.

Wohin, wenn die Sets im musealen Club-Ersatz zu Ende sind? Durch eine Verbindungstür in die Philharmonie oder aber in den Osten, hinter den Alexanderplatz ins Palais „Podewil“, wo die Parallelveranstaltung zum Jazzfest, Jost Gebers' „Total Music Meeting“ läuft (zum 25. Mal übrigens). Dort sammelte zum Beispiel der Pianist Misha Mengelberg in einer überaus zwanglosen nächtlichen Veranstaltung einige Musiker um sich, die allein oder in immer neuen Kombinationen auf die Bühne kamen. Ein „Cabaret“ ganz eigener Art spielten insbesondere Mengelberg selbst und der Schlagzeuger Han Bennink. Der Pianist, gebeugt, bebrillt, rundlich, koboldhaft, wischt wie zufällig über die Tasten, scheint Töne aus seinen Jackenärmeln zu schütteln, bis er schließlich ein tonales Zentrum findet und einkreist – oder eben nicht, seine Suche ihn vom Klavier wegführt. Ein Zigarettchen wird angezündet, die Pantomime bricht ab, das Klavierspiel setzt wieder ein. Auch Han Bennink führt seine radikale Suche nach konzentriertestem Spiel mit einfachsten Mitteln weg vom Schlagzeug. Hart trommelt er mit beiden Stöcken auf seinen Schuhen, kniet dann vor dem Publikum, benutzt Lippen und Mund als Resonanzkörper, schlägt Bühnenumrandungen und Teppichboden in rasenden Rhythmen – eine ungeheure Zusammenballung von Energie.

In einer Zeit, als die Welt noch weiter war, entstand Jazz selbst als eine Art „Weltmusik“ aus afrikanischen, karibischen und europäischen Elementen auf amerikanischem Boden. Heute, in der Enge des globalen Dorfs, ist Jazz selbst wieder Teil anderer Musikwelten und erneuert sich durch immer neue Einflüsse. In Peter Apfelbaums Multikulti-Big-Band aus der Bay Area um San Francisco, die in der Philharmonie spielte, sorgen zwei Drummer, ein Baßgitarrist und drei Gitarristen für ein vielfältiges, oft afrikanisch bestimmtes rhythmisches Unterfutter zur oft nahöstlich klingenden Melodik. Verblüffend, wie glatt solcher Ethno-Jazz inzwischen schon ins Ohr geht. Den mitreißenden Passagen, die manchmal an die Don Ellis Big Band der ausgehenden sechziger Jahre erinnern, stellt Apfelbaum getragene, statische Parts entgegen. Ein langer, etwas enttäuschender Set.

In einer Zeit, in der musikalisch alles möglich ist, besinnt sich ein Meister auf die Beschränkung: Julius Hemphill, Mitbegründer des „World Saxophone Quartets“, brachte in seinem Sextet lediglich Altsaxophone, Tenorsaxophone und ein Baritonsax, also die Instrumente des klassischen Big-Band- Sax-Satzes. Die Reduzierung schärft die Aufmerksamkeit. Die Kompositionen sind knapp, teils von spröder kammermusikalischer Qualität ohne Improvisation, teils an Ellington oder auch „Supersax“ anklingend. Wenn Improvisation, dann meist im disziplinierten Kollektiv über rhythmisch wiederholten Phrasen, aufregend in Ray Charles' „Lonely Avenue“. Den meisten Beifall aber gab es für die wenigen Solofeatures: für Tenorsaxophonisten James Carter, der vom süßen Einstieg über gehauchtes Klappenklappern bis zum Free- Ausbruch eine kurze Geschichte des Saxophons bläst, und insbesondere für Andrew White's weit ausholendes, coltraneskes Solo. Eine gut gelaunt entgegengenomme, verdiente Anerkennung für den Tenorsaxophonisten, der sich lange in der Jazzprovinz von Washington/D.C. verbarg.

Wie letztes Jahr mit Charles Mingus' „Epitaph“ war auch dieses Mal der Auftakt des Festivals schon ein Höhepunkt. Klaus König hatte 1990 mit seiner Big-Band- Suite „Hommage a Douglas Adams“ überrascht. Nach dieser Reise „Per Anhalter durch die Galaxis“ voll hintergründiger Anspielungen in diesem Jahr das Oratorium „The Song Of Songs“ – eine Vertonung des Hohelieds Salomos aus dem Alten Testament für zwei Solostimmen, Chor und (Jazz-)Orchester. König hatte hohe Erwartungen geweckt – und erfüllte sie. Der Komponist erlag der Textvorlage voll Liebesglut und Eifersucht, voll Leidenschaft und Bildermacht nicht, er formte sie in ein adäquates musikalisches Konzept: schnelle, wohl manchmal schroffe, aber nie hektische Überblendungen von schlicht swingenden Combo-Konstellationen und dramatischen Passagen, in denen die Power einer exzellent besetzten Big Band voll klug eingesetzter Solisten mit den Stimmen des akkurat geschulten, hochdynamischen „Montreal Jubilation Gospel Choirs“ zusammenströmt. Das Oratorium endet nach rund siebzig Minuten ebenso schnörkellos und fast beiläufig, wie es begann.

Insgesamt 26 Gruppen spielten auf 16 Jazzfest-Konzerten in vier Tagen, die Hälfte von ihnen habe ich gehört. Die persönliche Bilanz ist nicht schlecht: Klaus König und die „Cabaret Jazz“-Reihe waren völlig gegensätzliche, gleich befriedigende Highlights. Bleibt bloß die Frage, was wir uns für 1993 wünschen? Vielleicht, daß George Gruntz den Mut findet, Routine- Acts wie Milt Jackson oder das Charlie Haden Quartet West abzulehnen. Vielleicht, daß er sich fragt, ob es wirklich die Aufgabe des JazzFests ist, Jazzgeschichte als mitleiderregenden Schatten ihrer selbst vorzuführen, sprich: den alterssteifen Lionel Hampton, bei dessen brüchig gesungenem „What a wonderful world“ einem zwar Tränen der Rührung kommen konnten, aber auch ein Grübeln darüber, ob das Vorführen dem Grabe naher Greise (ähnlich wie in Gerichtssälen) nicht eher hochgradigem Zynismus entspringt als der Ehrfurcht vor historischen Gestalten. (Andererseits: Tourneen sind das Leben von Lionel Hampton!). Und sicherlich wünschen wir uns, daß Gruntz das nächste Festival mit schwärzeren und jüngeren Sounds plant. Wie wär's mit der Programmschiene „Vom Field holler zum Rap“?

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