Kriminalität: Fahndung um jeden Preis?

■ Organisierte Kriminalität: Scheitert der Kampf gegen italienische Verhältnisse an den fehlenden Mitteln der Polizei, oder bedrohen immer unbegrenztere Fahndungsvollmachten der Strafverfolger...

Hans-Jürgen Fätkinhäuer ist Leiter der Abteilung „Organisierte Kriminalität“ bei der Staatsanwaltschaft und Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte. Fätkinhäuer trug 1986 maßgeblich zur Aufklärung der Korruptionsaffäre um den Charlottenburger Baustadtrat Antes bei. Wolfgang Wieland ist Anwalt, Vorsitzender des Republikanischen Anwaltsvereins und Mitglied des Abgeordnetenhauses für die Grünen/Bündnis 90.

taz: Sie warnen ständig vor mafiosen Verhältnissen in Deutschland. Aber sind wir tatsächlich auf diesem Weg?

Hans-Jürgen Fätkinhäuer: Niemand bestreitet mehr, daß in Italien eine mafiose Kultur, ein Nebenstaat entstanden ist, der den eigentlichen Staat in seinem Gewaltmonopol beliebig herausfordert und vorführt. Noch sind wir nicht so weit. Aber was heute in Italien passiert, war dort vor zehn Jahren auch noch nicht möglich. Es ist falsch zu sagen, die Mafia hat Berlin im Griff. Aber wir haben innerhalb von drei Jahren eine Verdreifachung der Delikte im Bereich organisierte Kriminalität bekommen. Offenkundig sind dabei die internationalen Bezüge.

Wolfgang Wieland: Wir sind uns einig, daß organisierte Kriminalität eine Bedrohung der Gesellschaft und des einzelnen Bürgers sein kann. Verhältnisse wie in Italien dürfen bei uns nicht einwachsen. Ich bestreite aber, daß dieses Mafia-Modell auf die Bundesrepublik übertragbar ist. Hier wird dramatisiert und aufgebauscht von jenen, die wie das Krümelmonster sagen, mehr Gesetze, mehr Gesetze. Es wird nicht einmal eine gewisse Schamfrist abgewartet, wie das erst im Juni verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität wirkt.

Fätkinhäuer: Das Gesetz ist ungenügend. Wir brauchen neue Instrumente, weil bislang erfolgreiche Bekämpfungsstrategien versagen. Beispielsweise sind viele Bereiche der organisierten Kriminalität ethnisch abgegrenzt. Einen verdeckten Ermittler können sie da gar nicht reinschicken.

Die tschetschenische Mafia, falls sie existiert, wird dennoch niemals in der Lage sein, die Gesellschaft zu durchdringen, gerade weil sie ethnisch abgegrenzt ist.

Fätkinhäuer: Sie haben offensichtlich immer das Bild des großen Paten vor Augen. Viele kleine Paten machen aber in ihrer Wirkung auch einen großen Paten aus. Wir haben in den letzten zehn Jahren erlebt, daß in der staatlichen Verwaltung, in der Polizei oder auch in der Staatsanwaltschaft zunehmend Fälle von Korruption festzustellen sind. Das muß Anlaß zur Besorgnis sein. Sie müssen nur mal nach Frankfurt schauen, wo sich Staatsdiener für vergleichsweise geringes Geld kaufen lassen. Da wird mir angst und bange. Was passiert eigentlich, wenn Gruppierungen mit einem etwas größeren Scheck auftauchen?

Wieland: Das sind doch nur Einzelfälle. In Frankfurt ging es um Führerscheine, und es war ein Oberamtsanwalt, hier in Berlin gab es vor Jahren den Fall eines Staatsanwalts. Sünder gibt es überall – aber man kann doch nicht für alle Eventualitäten gleich Gesetze machen. Ich behaupte: Die deutschen Beamten – insbesondere auch bei der Justiz – sind nicht besonders korruptionsanfällig.

Auf jeden Fall sind dies keine Probleme, die neue Instrumente der Verbrechensbekämpfung rechtfertigen.

Fätkinhäuer: Mafioses Verhalten zeichnet sich auch dadurch aus, daß Zeugen und Beschuldigte unter Druck gesetzt oder korrumpiert werden. Damit fallen sie vor Gericht als Beweismittel aus. Notwendig ist deswegen eine elektronische Kommunikationsüberwachung...

...also der Lauschangriff...

Fätkinhäuer: Wir brauchen dieses dringlichst, weil wir nur mit diesem Instrumentarium aufdecken können, was diesen Staat massiv erschüttert. Das sind nicht die Kriminellen, die auf der Oberfläche herschwimmen und die wir sehen wie die Hütchenspieler, das sind die Hintermänner, die kommunizieren müssen mit ihren Leuten. Die tun das sehr abgeschottet und sehr konspirativ. Da kommt man mit der normalen polizeilichen Obnservation nicht ran.

Ungenügend ist auch die Überprüfung der Geldwäsche. Da kann man auch die ethische Grundeinstellung eines Staates überprüfen. Wenn ich feststelle, daß ein Gewinnaufspürungsgesetz bestimmte Berufsgruppen wie Rechtsanwälte und Steuerberater von einer Identifizierungspflicht ausnimmt, dann gehört dieses Gesetz in den Papierkorb. Der Bundesrat hat deswegen dazu auch gesagt, diese Vorschrift ist das Einfallstor für die organisierte Kriminalität. Fast jeder Anwalt ist eben auch Familienvater und ist bedrohbar in seinem persönlichen Bereich. Deswegen können wir nicht ausschließen, daß organisierte Kriminalität einen Rechtsanwalt dazu zwingt, diese Finanztransaktionen zu begehen. Außerdem gibt es den einen oder anderen Anwalt, der dies auch freiwillig tut.

Das zeigt doch nur die Stärke der Bankenlobby.

Fätkinhäuer: Wenn die Banken sagen, wir wollen das nicht, dann muß man in der Tat kritisch fragen, warum nicht. Es sträuben sich mir auch die Haare, daß aufgrund unserer eigenen Finanzgesetze Korruptionsgelder, die im Ausland eingesetzt werden, hier als Betriebsausgaben abzusetzen sind. Ist die staatliche Integrität eines ausländischen Staates nichts wert?

Den Korruptionsskandal von 1986 hat man relativ erfolgreich aufgeklärt – ohne die jetzt geforderten Mittel. Die hätten doch auch nicht weitergeholfen, weil die Täter bislang als sehr ehrenwerte und unbescholtene Menschen galten. Da wären sie doch nie auf den Gedanken gekommen, die schon vorsorglich zu belauschen. Bestimmte Ermittlungen scheitern eben nicht an den fehlenden Instrumenten, sondern, wie bei den Rüstungsexporten, am fehlenden Ermittlungsinteresse.

Fätkinhäuer: Warum man den Rüstungsexporten nicht nachgeht, will ich nicht beurteilen. Daß man beim Bauskandal erfolgreich war, schließt nicht aus, daß man das neue Instrumentarium beim nächsten Mal dringlich braucht. Ich erinnere hier nur an die kürzliche Festnahme eines Statthalters des Cali-Kartells. Da war der Zugriff auf viele Kilogramm Kokain nicht das Ergebnis klarer Ermittlungsarbeit, sondern einer Fülle von Glücksfällen. Alle anderen Instrumentarien wie Telefonüberwachung oder Observation waren bereits leergelaufen. Es geht deswegen darum, für jeden Fall das richtige Mittel zu finden. Deswegen lache ich mich immer krank, wenn ich höre, daß hier der Überwachungsstaat droht. Es geht um ein Instrument, das man wie ein Chirurg in einer ganz bestimmten Situation einsetzt und das eingebunden sein muß – wie bei der Telefonüberwachung – in einen Katalog mit richterlichen Genehmigungsvorbehalten. Dazu kommt die Möglichkeit des Betroffenen, sich im nachhinein dokumentieren zu lassen, daß die Maßnahmen zu Recht oder Unrecht angeordnet worden sind.

Wieland: Worüber klagen Sie eigentlich? Die Große Koalition hat doch gerade das ASOG verabschiedet, das der Polizei diese ganzen Horrorinstrumente an die Hand gibt. Sogar zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten und selbst gegen Ordnungswidrigkeiten dürfen verdeckte Ermittler eingesetzt und ein Lauschangriff gemacht werden. Auch deswegen habe ich kein Verständnis, daß immer noch gerufen wird, wir brauchen neue Befugnisse. Ich halte dieses Gesetz schon für viel zu weitgehend. Im Ergebnis entwickelt sich die Polizei zu einer halbkriminellen Geheimpolizei. Früher hat man entschieden dementiert, daß Polizisten als verdeckte Ermittler auch Straftaten begehen könnten. Heute hört man, selbstverständlich sei dieses Instrument wirkungslos, wenn nicht auch erlaubt würde, Straftaten zu begehen. Wir sagen, dieser Preis ist uns zu hoch. Polizei und Verbrecher müssen unterscheidbar sein.

Fätkinhäuer: Wir haben nicht gefordert, daß der verdeckte Ermittler jedwede Art von milieutypischen Straftaten begehen kann, sondern kleinere Straftaten. Das ist die Teilnahme an einem Glücksspiel, die eine läßliche Sünde wäre. Gleiches gelte bei Autoschieberbanden für das Fahren eines Fahrzeugs mit gefälschtem Kennzeichen.

Und der Transport eines Kilos Heroin?

Fätkinhäuer: Das hängt davon ab, ob man letztendlich dieses Kilo sicherstellen kann. Das sind natürlich schwierige Abgrenzungsfragen, wo man abwägen muß, ob man den Gesamterfolg durch ein zu frühes Zugreifen in Frage stellt.

Aber es ist doch inzwischen sogar Praxis, Geschäfte selber anzuschieben.

Fätkinhäuer: Wir können natürlich auf den verdeckten Ermittler verzichten – wenn ich statt dessen die elektronische Kommunikationsüberwachung hätte. Dann hätten wir ein Problem ausgeschaltet. Dann könnten wir sicherstellen, daß ein verdeckter Ermittler nicht als agent provocateur auftritt und dann macht, was die Presse dann zu Recht rügen würde.

Es geht doch nicht nur um V-Leute, sondern um BKA-Beamte, die nach Laos oder Kolumbien fahren und dort Geschäfte initiieren, um so an die Bosse heranzukommen.

Fätkinhäuer: Eins ist sicher richtig. Es kann keinen Sinn geben, Straftaten erst zu produzieren.

Wieland: ... was oft genug geschieht ...

Fätkinhäuer: Daß es solche Fälle gegeben hat, will ich nicht bestreiten. Mir gefällt das auch nicht. Das sollte es nur geben, wenn dies operative Maßnahmen des Zugriffs auf jemanden sind, der vorher bereits in erheblichem Maße Straftaten begangen hat. Wenn jemand in das kriminelle Feld erst reingeführt wird, dann lehne ich das ab. Die elektronische Kommunikationsüberwachung würde dieses Problem lösen.

Aber können Sie sich vorstellen, daß ein Chefbüro eines großen deutschen Unternehmens elektronisch überwacht wird bei einem ganz vagen Anfangsverdacht?

Fätkinhäuer: Es ist sicher leichter, eine solche Maßnahme einem Richter verständlich zu machen, wenn die Zielperson ein einschlägig bekannter Rauschgifthändler ist und nicht das bisher unbescholtene Vorstandsmitglied einer großen Firma. Ich sehe darin aber eigentlich kein Problem. Sie vermuten aber eigentlich, daß da Dinge gesteuert werden könnten. Da verlange ich einfach ein Rückgrat der Leute, die mit einem solchen Verfahren befaßt sind. Sie müssen sich der Aufgabe verpflichtet fühlen und nicht in vorauseilendem Gehorsam handeln. Dabei aber helfen keine Gesetze. Das ist eine Frage des Standings des Staatsanwaltes oder seines Vorgesetzten und eines Richters.

Wieland: Bevor wir über Instrumente reden, müssen wir fragen, wo Kriminalität entsteht. Das geschieht im Bereich staatlicher Verbote und Illegalisierung, insbesondere bei den Drogen. Das ist völlig unsinnig. Die Polizei kämpft gegen Windmühlen: Die USA sind mit ihrem Krieg gegen die Drogen gescheitert, und das BKA wird ebenfalls scheitern. Dennoch aber wird weiter auf die Windmühlen zugeritten. Dann die Prostitution, die hahnebüchener Weise immer noch illegalisiert ist, und auch der Bereich Glücksspiel. Kriminalität entsteht auch dort, wo es zuwenig gesellschaftliche Transparenz gibt – wie in der Wirtschaft, wo es Kartelle gibt und Absprachen stattfinden. Das sind allesamt gesellschaftliche Aufgaben, dies zu ändern. Die Strafverfolgungsbehörden aber sind überfordert, wenn man ihnen das aufbürdet. Es wird dann ein Restbereich von originärer Kriminalität bleiben wie Schutzgeld-Erpressung in Gastwirtschaften. Doch mit dem, was dabei zu verdienen ist, würden sich hier niemals Kartelle aufbauen können. Wenn sie entstehen, dann aus den Gewinnen im Drogenhandel. Das Verbot der Drogen schafft gerade ein Einfallstor, hier den Handel zu beginnen. Hier muß man den Markt wegnehmen. Der Versuch, die Anbieter zu fassen, ist jedenfalls gescheitert.

Wir sind ja einig im Interesse, organisierte Kriminalität zu verhindern. Auf der anderen Seite gibt es bei der Linken die Sorge vor einem Orwellschen Staat.

Fätkinhäuer: Es ist eine groteske Situation, daß ein linkes Spektrum mit dieser Angst, die zwar nachvollziehbar ist, aber nicht real ist, unabsichtlich das Geschäft dieser Kriminellen betreibt. Ich bin auf die Verfassung vereidigt und lege die Hand dafür ins Feuer, daß es diesen Mißbrauch nicht gibt. Ich habe auch nichts dagegen, einen auf vier, fünf Jahre begrenzten Versuch zu machen. Dann wissen wir danach, ob die Kassandra-Rufe berechtigt waren. Zugleich aber hätten wir diese Jahre nicht verloren. Wenn es nichts bringt, dann revidieren wir das wieder. Ich habe nur Sorge, daß wir den entscheidenden Zeitpunkt verschlafen.

Wieland: Die Beamten des Bundesinnenministers, die seinerzeit den Lauschangriff auf Klaus Traube gemacht haben, waren auch auf die Verfassung vereidigt. Das ist keine hinreichende Garantie. Sie sagen, die größten Verbrechensbekämpfer müßten die Linken sein, denn das Verbrechen organisiert sich da, wo Macht und Einfluß ausgeübt werden. Das sehe ich auch so. Die Frage ist nur: Mit welchem Instrumentarium geht man dagegen vor? Gibt es ein neutrales Instrumentarium, das keine Auswirkungen auf Bürgerfreiheiten hat? Da liegt unsere grundsätzliche Differenz. Sie sagen, ich nehme mir ein Skalpell und gehe nur dahin, wo das Eitergeschwür ist. Der brave Bürger hat kein Eitergeschwür, und deswegen braucht ihn das gar nicht zu interessieren. Unsere Erfahrung ist nun eine ganz andere.

Wir haben in den siebziger Jahren selber dieses ganze Instrumentarium zu kosten bekommen. Von daher sind wir mißtrauisch. Der Preis für ihre Vorstellungen ist der durchsichtige Bürger. Diesen Preis wollen wir nicht zahlen. Eine Kriminalitätsbekämpfung mit rechtsstaatlich einwandfrei eingegrenzten Mitteln ist möglich, man muß es nur wollen. Die Probleme liegen woanders: bei den vorsintflutlichen Arbeitsbedingungen. Da müssen Polizisten jedes Ferngespräch beim Vorgesetzten anmelden, werden Telefax-Geräte nachts abgeschaltet und alle Protokolle selber auf mechanischen Schreibmaschinen getippt.

Fätkinhäuer: Ich widerspreche energisch. Eine bessere bürotechnische Organisation ist nützlich, aber das ist nicht das Entscheidende. Das bringt uns keinen Zentimeter weiter.

Wieland: Aber probieren Sie es doch mal aus. Geldwäsche ist jetzt erstmals ein Delikt geworden, und Sie gehen hin und sagen, klappt sowieso nicht, weil die Anwälte noch ihr Privileg haben.

Fätkinhäuer: Ja, weil die organisierte Kriminalität genau diese Lücke ausfüllen wird. Wir müssen in den Chefetagen ansetzen, und das können wir nicht, weil das Gesetz ein untaugliches ist. Deswegen weisen wir darauf hin, damit wir nicht in eine Situation hineinrutschen, die irgendwann nicht mehr umkehrbar ist – so wie in Italien. Dann müssen sich Politiker damit auseinandersetzen, daß es ihnen so geht wie dem ehemaligen Bürgermeister von Palermo, der so bewacht werden muß, daß es einem menschlich nur noch grausen kann.

Wieland: Sie bleiben den Beweis schuldig, daß eine Entwicklung wie in Italien mit den Mitteln, die sie jetzt haben, nicht verhindert werden kann. Der Gesetzgeber macht ein Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität mit einem verbesserten Zeugenschutz, und Sie setzen sich hin und sagen von vornherein, das bringt es alles nicht, wir wollen bis unter die Bettdecke des Bürgers. Irgendwo aber sind Grenzen. Daumenschrauben oder andere Arten der Folter sind auch sehr effektiv. Doch der Rechtssstaat kennt nur Strafverfolgung in gewissen Formen, die teilweise auch die Effizienz begrenzen. Es gibt nicht Wahrheitsfindung um jeden Preis, und das ist gut so. Das Gespräch führten

Jürgen Gottschlich und

Gerd Nowakowski