: Der Menschheit bleibt nur eine kurze Frist
■ „Menschheit wohin?“: internationaler Kongreß im Haus der Kulturen der Welt/ „Europa muß sich von sich selbst befreien“
Berlin. „Unser Zivilisationsmodell ist gescheitert“, davon sind die Veranstalter des Kongresses „Menschheit – wohin?“ überzeugt. Die noch bis Samstag im Haus der Kulturen der Welt laufende Konferenz über die Möglichkeiten neuer Lebensstile, den das „Bildungswerk für Demokratie und Umweltschutz“, „Buntstift“ und die „Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt“ ausgerichtet haben, begann vorgestern abend mit einer höchst anregenden Podiumsdiskussion. Deutliche Worte wider den Eurozentrismus symbolisierten, daß der Impuls zu diesem Kongreß aus Lateinamerika gekommen war.
Fernando Mires, Professor in Oldenburg und chilenischer Ex- Marxist, enttarnte in einem brillanten Eingangsreferat die alte Konzeption vom Sozialismus als europäisches Kolonialisierungsprojekt, selbst die Dialektik sei nur eine Art Reflex auf dichotomisches Denken, das neue Sichtweisen blockiere. Aber nicht nur die Marxisten, alle hätten geglaubt, daß „die Geschichte eine Richtung habe“, so Mires. Dieser Trugschluß habe die jetzige „Ungewißheit“ produziert, die jedoch „unheimlich produktiv“ sein könne, weil sie Fragen statt Antworten aufwerfe. Diese neue Zeit habe im ehemaligen Ostblock begonnen, als Dissidenten wie Havel die Weltordnung „radikaler verändert“ hätten als seinerzeit Robespierre oder Lenin.
Eine der Folgen: „Wir erleben heute nicht eine politische Krise, sondern die Krise der Politik.“ Eine andere: Man müsse eine ganz neue politische Geographie erfinden. Europa nämlich habe nicht nur andere kolonialisiert, sondern auch sich selbst – siehe die Roma und Sinti. Mires, hier dann doch wieder ganz dialektisch: „Europa muß von sich selbst befreit werden, damit Europa entstehen kann – als ein Europa der Vielfalt und kulturellen Begegnung.“ Aber auch die Dritte Welt habe ihre Konturen neu zu suchen, denn bislang habe sie nur als „Zwischenwelt“ zwischen Erster und Zweiter und „Expansionsgebiet“ für die beiden Supermächte existiert. Nun aber, siehe Rumänien oder Bulgarien, werde die Dritte Welt zur ganzen Welt. Einer weiteren Folge gab der Chilene den Namen „zweite Säkularisierung“. In der ersten habe die Wissenschaft die Religion ersetzt, dabei aber viele ihrer Momente übernommen. Die zweite Verweltlichung, die Infragestellung dieser Wissenschaft, laufe hoffentlich darauf hinaus, daß das Nichtwissen in die neu zu schaffende Wissenschaft einbezogen werde.
Die mexikanische Sozialpsychologin Gloria Careaga unterstützte diesen Gedanken: Die Begriffe der heutigen Wissenschaften entstammten „der europäischen Realität“, nun müsse endlich das Wissen berücksichtigt werden, das bisher als „magisch“ und „unhistorisch“ galt. Die heutige Krise der Vernunft führe zu einem vielleicht produktiven Schweigen, in dem „wir alle, Frauen und Männer, sogenannte Zivilisierte und Unzivilisierte, zu Subjekten werden können“. Rudolf Bahro indes machte diese Krise der Vernunft gleich zu einer allumfassenden: „Es gibt nichts zu verteidigen an der westlichen Zivilisation. Wir müssen uns von den Errungenschaften des City-Kapitalismus verabschieden“, befand er mit einer Kaufhof-Plastiktüte zu seinen Füßen.
Jakob von Uexkull, Stifter des alternativen Nobelpreises, war da realistischer. Der neue US-Vizepräsident Al Gore habe verstanden, daß die Rettung der Natur zum zentralen Organisationsprinzip der Politik gemacht werden müsse. Aber auch das Worldwatch Institute habe konstatiert, „daß wir nur noch ein paar Jahre Zeit haben“. Das Wachstum auf Kosten der Umwelt bedeute nämlich „die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Armen“ und begründe somit auch Völkerwanderungen und Rassismus. Das alles, riet der indische Sozialanthropologe J. P. Singh Uberoi, könne nur mit mehr Spiritualität angegangen werden. Denn: „In jedem Europäer steckt ein Nichteuropäer, der gerne rausmöchte, und umgekehrt.“ Ute Scheub
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen