: Architektur als Stadtraumkunst
Eine erste Werkmonographie des Berliner Architekten Erwin Gutkind (1886-1968) ■ Von Martin Kieren
Berlin ist in großen Schüben entstanden, und bis zum Ersten Weltkrieg war das eigentliche Berlin, jedenfalls die Mietshausstadt, das „steinerne Berlin“, in seiner jetzigen Form fertig. Durch die zunehmende Kritik an den Wohnverhältnissen – die „Licht-, Luft- und Sonne-Diskussion“ – hat es seit dem Ende des 19.Jahrhunderts immer wieder Versuche gegeben, Reformmodelle des Wohnens zu entwickeln. Aber erst nach dem Ersten Weltkrieg wurden quantitativ wie qualitativ erwähnenswerte Ergebnisse erzielt. Es entstanden die Großsiedlungen der zwanziger Jahre, von denen nicht wenige, wie zum Beispiel die „Hufeisensiedlung“ in Britz, die „Onkel-Tom-Siedlung“ in Zehlendorf und die „weiße Stadt“ in Reinickendorf, mittlerweile zum anerkannten Kanon der bedeutenden Architektur dieser Zeit zählen.
Aufgenommen in diesen Kanon und längst zu einem Mekka für Architektur-Touristen geworden ist auch der sogenannte „Pfahlerblock“ in Reinickendorf, gebaut in den Jahren 1927-29. Sein Architekt: Erwin Gutkind. Das jetzt erschienene Buch von Rudolf Hierl „Erwin Gutkind. 1886-1968. Architekt als Stadtraumkunst“, muß, was die Architekturpublikationen dieses Jahres betrifft, als Bonbon gelten. Erwin Gutkind hat ab 1923 eine ganze Reihe von Siedlungen in Berlin realisieren können – bis 1933. Er stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie, verlor bei seiner Emigration über Paris nach England sein gesamtes Vermögen und arbeitete fortan – bis zu seinem Tod 1968 – als Berater, Gutachter, Publizist und Historiker.
In der Publikation spielen der „Pfahlerblock“ und seine Stellung innerhalb der „Stadtraumkunst“ eine zentrale Rolle. Was diesen Block vor vielen anderen innerstädtischen Siedlungen der gleichen Zeit auszeichnet, ist seine Rhythmisierung, sein Verhältnis zum Straßenraum, das Einschreiben des Blockkörpers in die Stadt. Gutkind experimentiert eben nicht mit „zeitgemäßen“ gestaffelten Zeilenbauten, sondern nimmt den traditionellen städtischen Block als Ausgangspunkt für seine Planung und treibt die in der Spannung von Straße und Block verborgenen räumlichen Möglichkeiten weiter – ein Versuch, die Eurythmie beim Bauen anzuwenden.
„Durch die Eurythmie findet das Auge und das Gefühl den letzten und beruhigenden Ausgleich und eine Milderung der reinen, abstrakten Stereometrie der Materie. Die Linien stehen nicht mehr unter dem absoluten Druck dieses Prinzips, sondern suchen sich dem Menschen menschlich fühlbar zu machen. Wo die mathematische Lösung der Konstruktion ein ungenügendes, negatives Bild ergeben würde, das die Materie statt zu beleben erstarren ließ...da setzt die Eurythmie ein...die konkrete Faßlichkeit der Materie wird zu unmittelbarem Mittasten und Miterleben gesteigert.“ Soweit Gutkind selbst in seiner Dissertation „Raum und Materie. Ein baugeschichtlicher Darstellungsversuch der Raumentwicklung“ (1931).
Gutkind gehört also zu den Architekten, die sich über das Sehen und Erleben von Architektur Gedanken machen, was bei ihm dazu führt, daß er dem Innenraum, dem Wohnungsgrundriß, weniger Aufmerksamkeit widmet und hier zu eher traditionellen Lösungen neigt.
Dort, wo ein Bruno Taut oder ein Alexander Klein mit der Minimisierung aber auch Optimierung des Grundrisses „im Dienste der Hausfrau“ experimentierten, da ist bei Gutkind nichts zu holen. Er verwendet seine ganze „künstlerische“ Kraft auf die Formulierung der „Haut“, die Staffelung und Auflösung der Baukörper und auf die plastische Durcharbeitung des Straßenraumes mittels der Fassade.
Gerade am „Pfahlerblock“ kann man diese Hingabe an sein Thema spüren. Die Straßenrandbebauung wird durch immer den gleichen Haustyp gebildet, jedoch in einem bestimmten Rhythmus von der Straßenflucht in den Hof zurückgestaffelt, wodurch ein „Stadtraum“ höchster Plastizität erzielt wird. Dabei werden die einzelnen Haustypen zusätzlich mehrmals optisch miteinander verklammert, beispielsweise durch horizontal verlaufende rote Klinkerbänder im Sockelgeschoß und im Dachgeschoß. Zudem sind die vorspringenden Ecken, die durch die Staffelung entstehen, zum Teil über Eck verglast, so daß eine subtile Spannung zwischen der geschlossenen, verputzten Wand und den Fensteröffnungen entsteht. Diese Spannung wird noch gesteigert durch die horizontale Versproßung der Fenster.
Die eigentliche Stärke der Gutkindschen Siedlungsprojekte liegt allerdings in der expressiven, dann aber auch wieder „suprematistischen“ Behandlung der Gebäudeecken. Gutkind schneidet förmlich die Ecken aus, um sodann mit Balkonen oder dem eingeschobenen Treppenhaus „suprematistische Architekturen“ im Sinne Malevitschs zu gewinnen. Dabei steigert er auch diese Spannung wieder mit dem Kontrast von roten Klinkerflächen zu hellverputzten glatten Wandscheiben. Diese polychromatische Auffassung von Architektur ist gepaart mit ausgeprägtem Feingefühl für die Formulierung der Baumassen. Der Autor des Buches macht die „Stadtraumkunst“ bei Gutkind als dessen Stärke und Einzigartigkeit aus.
Das Buch über Gutkind ist aus Berliner Sicht von größtem Interesse gerade auch deshalb, weil in den nächsten Jahren große Siedlungsprojekte anstehen: schon in Kürze sind mit der Wasserstadt Spandau und der Siedlung in Falkenberg große städtische Areale auch „städtisch“ zu bebauen. Hier könnte und müßte die Diskussion einer „Stadtraum-“, aber auch einer neuen „Stadtbaukunst“ wieder einsetzen. Das Buch gibt einen guten Einblick in das Denken und Bauen Gutkinds, weil der Autor es immer wieder versteht, zentrale Texte des Architekten in längeren Passagen so einzusetzen, daß sein Werk gleichsam selbst von ihm kommentiert wird und wir somit die Intention des Entwerfers am Bau mitverfolgen können.
Rudolf Hierl: Erwin Gutkind. 1886-1968, Architektur als Stadtraumkunst, Vorwort von Julius Posener, Birkhäuser Verlag, Basel/Berlin/Boston 1992, 214 Seiten, 118 DM.
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