: Die tag-Welle schwappt durch Berlin
■ Wie Hunde markieren immer mehr Kids ihr Revier mit tags/ Je mehr Aufmerksamkeit ein tag erregt, um so größer ist das Ansehen/ Aus vielen taggern werden Graffiti-Künstler
Karol tagt*, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Als erstes begann der 15jährige Schöneberger vor zwei Jahren damit, seinen Spitznamen auf Tischen, Wänden und Toilettentüren seiner Schule zu hinterlassen. Nach und nach wollten viele seiner Schulkameraden auch mit ihrem Namenszug aus der Anonymität des tristen Schulalltags entrinnen. Aufmerksamkeit erregte vor allem das tag- Chaos, das in der Schule ausbrach. Die Schüler hinterließen ihre Spuren, wie Hunde ihr Revier markieren. Permanenter Ärger mit Lehrern und Putzfrauen war die Folge. Karol wurde zweimal dabei erwischt, wie er die Tür des Lehrerzimmers beschmierte. Bald darauf begann ein regelrechter tag-Krieg, der sich nun auf den Schulweg verlagerte. Kein Zigarettenautomat, kein Laternenpfahl und keine Telefonzelle konnte blieb von den tag-Angriffen verschont. „tags anzubringen“, sagt Karol, „kostete viel Mut und Durchsetzungsvermögen; du bist immer auf der Suche nach dem größtmöglichen Coup.“ Jeder der Kids versuchte einen anderen tag in Form, Farbe, Größe und damit die Konkurrenz zu übertrumpfen. Die Philosophie der Jugendlichen: Je mehr Aufmerksamkeit mein tag erregt, desto mehr Anerkennung.
Wenn ein tagger einen anderen nicht leiden kann, so werden neuerdings dessen tags mit dem Wort toy** überschmiert. In den nächsten Tagen versucht dann der „Getoyte“, den Übeltäter ausfindig zu machen, um dessen tags zu beseitigen. Wenn es beim Racheakt dann wieder einen unbeteiligten tagger trifft, kann es schnell zu einer Schmiereskalation kommen. Die Kids werden immer wählerischer, was als richtiger tag anerkannt wird. In den Schulen kursieren tag- Knigges, in denen steht, welcher Schnörkel beim Schriftzug zur Zeit hip ist. Die Zahl der jugendlichen „Markierer“ ist allein schon am Ausmaß der tags im Stadtbild zu erkennen. Die Welle schwappt durch die Berliner Bezirke und Schulen. Ein Sozialpädagoge aus dem Wedding sagt, „taggen ist out“; eine Lehrerin aus Neukölln vermutet, daß zur Zeit in ihrer Klasse allein zehn Kids mit dem Filzer durch die Straßen ziehen. Sozialarbeiter und Pädagogen versuchen nun, das taggen in kulturelle Bahnen zu lenken. Unter der Anleitung anerkannter Graffiti- Künstler werden offiziell ausgesuchte Flächen für die Jugendlichen freigegeben. In den Schulferien organisieren Jugendfreizeitheime Graffiti-Workshops mit dem Ziel, die Kids von der Straße und aus der U-Bahn zu holen.
Aus vielen einstigen taggern sind heute ehrgeizige junge Künstler geworden, die mit Graffitis oder „Aerosolart“ sogar viel Geld machen können. Die „offiziellen“ Graffitis des 17jährigen Ecevit „ECO“ Durmaz würden nicht einmal auf einen U-Bahnzug passen. Für sein letztes Werk brauchte er ganze 1.500 Arbeitsstunden und eine der größten Außenwände, die er in Kreuzberg finden konnte: Die Bunkerwand am Sportplatz Körtestraße. Unterstützt wurde ECOs Projekt von der Senatsverwaltung für Jugend, von der Sozialpädagogentruppe „Mobiles Team Kreuzberg“ und dem Sportverein „SC Amateure“. Zusammen mit türkischen und kurdischen Freunden und der finanziellen Unterstützung aus Sondermitteln der BVV- Kreuzberg in Höhe von 16.000 Mark entstand in diesem Jahr eines der größten Graffiti-Bilder der Stadt. In fünfwöchiger Arbeit mußte erst einmal die von Eisenstreben und Schießscharten durchzogene 135 Quadratmeter große Betonbunkerwand hochdruckgereinigt, grundiert, verputzt und gestrichen werden. ECO gestaltete danach sein Graffiti als eine Art Riesenpuzzle, das in der Mitte auseinanderbricht und von einem kosmischen Strudel mit dem Gesicht einer jungen Frau verschluckt zu werden droht. „Auf dem Bild sind systematisch Roboter aus der Zukunft, Rapper aus der Gegenwart und Fußballspieler aus der Vergangenheit angeordnet“, erklärt ECO die Figuren in seinem Werk. Rainer Warzecha von der Galerie „Interglotz“ ist von der Arbeit des jungen Graffiti-Künstlers begeistert und glaubt dessen Message erkannt zu haben: „Für mich ist das Graffiti das große Puzzle Menschheit – aus der unendlichen Weite des Alls, das uns alle vereint.“
Der Jugendstadtrat von Kreuzberg, Helmut Borchardt (SPD), hofft bald innerhalb des Bezirkes private Flächen für Graffiti-Projekte finden zu können. In einem Brief an Diepgen hatte er unlängst vergeblich die Freigabe eines U-Bahnwaggons für Graffitis erbeten. Das Gemälde von ECO ist für den Stadtrat der Beweis: „Die Kreativität und Fähigkeiten der jungen Leute sind vorhanden.“ Nur die fehlenden Flächen führten dazu, daß U- und S-Bahnzüge und Hausfassaden illegal und unter Zeitdruck „verschmiert werden“. Martin Lange
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