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Mobile festgeschweißt

Birgit Vanderbekes literarischer Nachtrag zu Max Frischs „Gantenbein“-Roman  ■ Von Elke Schmitter

Mir sind nicht viele eindrucksvolle deutsche Romane bekannt, die außerdem charmant sind (also charmant, ohne angestrengt zu sein, ohne im Klappentext der „amüsanten Leichtigkeit“ geziehen werden zu können, charmant im unaufdringlichen und haftbaren Sinne des Wortes): „Mein Name sei Gantenbein“ ist ein solcher Roman. Noch bevor die postmoderne Technik ausgerufen war, bevor das Kalkül mit der Babuschka-Geschichte in Mode kam und die LeserInnen der sogenannten Weltsprachen gequält wurden mit Anfängen, die sich zurücknehmen, und Erzählern, die vornehmlich über die Möglichkeiten der Erzählung mutmaßen, erfand Max Frisch die Geschichte unter dem Motto: „ICH STELLE MIR VOR:“ Ein Mann erfindet sich als Blinden, als Beinahe-Professor, als Liebhaber; ein Mann unterläuft die Notwendigkeit der Entscheidung, indem er an jeder Gabelung des Weges sagt: „Ich stelle mir vor:“ Er nimmt den Flug oder nimmt ihn nicht, er nimmt die Blindenbrille ab oder behält sie auf, er läßt sehenden Auges ein Glas überlaufen oder rettet den Tisch vor der Pfütze, und vielleicht antwortet er seiner Frau (der Frau des Blinden) EINMAL auf ihre rhetorische Frage „Du, hast du das gelesen?“: „Ja, das habe ich gelesen.“

Der blinde Seher hat eine Frau namens Lila, die Schauspielerin ist und nicht nur glaubt, daß Gantenbein blind ist, sondern diese Tatsache auch ausnutzt: so läßt sie Briefe ihres dänischen Liebhabers überall in der Wohnung herumliegen, wo Gantenbein sie sehen und lesen könnte, hätte er sich das Sehen nicht verboten (er stellt sich vor, als Blinder zu leben) und wäre er nicht auch als Sehender zu taktvoll, um zu lesen. Gleich Lila betätigt Gantenbein seine Blindheit (die nur eines seiner Spiele ist, aber das, welches die meisten Spiele nach sich zieht) nach Bedarf: er sieht ihre Liebesbriefe nicht, aber kann ihr das richtige Kleid empfehlen. Er übersieht ihre Müdigkeit (obwohl Lila auch müde noch schön ist), aber nicht die vollen Aschenbecher. Er läßt sich vom Blindenhund ausführen, kann diesem aber Hundefutter kaufen. Lila liebt Gantenbein, und Gantenbein liebt Lila. Er nimmt ihre edle Zerstreutheit hin, weil sie ihm angehört in all ihrer rührenden Schönheit, und sie betrügt ihn nur nebenbei, weil sie ihn wirklich nicht kränken will. Beide haben ein liberales Verhältnis zur Faktizität und leben eine ausschnitthafte, aber fleckenlose Wahrhaftigkeit. Beide glauben einander fast alles, vor allem glauben sie einander die Liebe. Es steht alles zum Besten.

Für Birgit Vanderbeke aber nicht. Die junge Autorin hat sich daran begeben, dem alten Meister etwas nachzutragen und Lila, des Blinden Gegenspielerin, selber sprechen zu lassen: „Fehlende Teile“ heißt dieses Stückchen Rollenprosa, das Frischs „Gantenbein“ dennoch nichts Notwendiges hinzufügt. Weder erlebt die Schauspielerin eine ordentliche feministische Wiedergeburt (immerhin denkbar bei der jugendstilartigen lila Vorlage), noch fügt Vanderbeke dem zarten Versteckspiel des Paares etwas Wesentliches hinzu, noch entlarvt sie es als etwas ganz anderes. Sie tut nur das, worauf Frisch klugerweise verzichten konnte: sie führt es zum bösen Ende, was dem Ganzen gibt, was es nicht braucht – Moral, und die dann auch noch oberstufentauglich. Als hätte man ein Mobile in allen Teilen festgeschweißt, weil man sein Schwanken nicht erträgt.

Birgit Vanderbeke, die für ihre Debüt-Erzählung „Das Muschelessen“ den Ingeborg-Bachmann- Preis bekam, führt eine glatte, leicht schlenkernde und elegante Sprache. Im „Muschelessen“ hat sie ein 60er-Jahre-Familienidyll mit leichten Verzerrungen, subtilen rhetorischen Techniken und sparsamer, aber effektiver Dramaturgie ins wahrhaft Grauenhafte hineingeschrieben; in ihrer neuesten Erzählung nutzt sie dieselben Mittel, aber unkonzis und ohne jede Notwendigkeit. So ergänzt sie die Rahmenerzählung, die sie von Frisch übernahm (wo die Geschichte von Gantenbein und Lilas Ehe nur einen Teil des Romans ausmacht), um nichts Wesentliches, sondern nur um Anekdotisches, das die Figur Lila (bei Frisch naturgemäß Projektionsfläche, im Besonderen für den blind sein wollenden Gantenbein, aber auch für das Publikum, die Gesellschaft) nicht so lebendig macht, daß man für den Verlust an Kunst zugunsten des Lebens entschädigt würde... Wenn sie es Frisch gleichtut und Varianten amplifiziert, dann haben diese die Ideen für sich, aber das Gewohnte gegen sich: „Bleibt der vierte Fall, in dem das Wetter nicht so sehr eine Rolle spielt, sondern womöglich ein Drehbleistift. Auch spricht der Däne nicht englisch, sondern akzent-, wenngleich nicht dialektfrei deutsch, und Lila muß ihn nicht suchen und finden, weil sie ihn längst schon im Auge hat; so genau wissen wir es nicht und wollen es gar nicht genauer wissen.“ Ja,ja...

Birgit Vanderbeke schreibt so gut (so verhalten, so nüchtern, melodiös und schlicht, mit permanenter Ironie, die nichts beweisen will), daß die Erzählung nicht schlecht sein kann, aber von Lilas Erfinder trennt sie dann doch noch Erhebliches. Es ist die absichtslose Begabung, die sich anmutig anzulehnen weiß und kippt, wenn der Gegenstand fehlt. Hier hat sie ihn nicht gefunden.

Birgit Vanderbeke: „Fehlende Teile“. Erzählung, Rotbuch Verlag. Geb., 111 Seiten, 24,80 DM

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