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Ich ist kein anderer, sondern mehrere

■ Nathalie Sarrautes Roman „Du liebst dich nicht“

Schon in ihren früheren Romanen und in dem Essay „Zeitalter des Argwohns“ (deutsch 1963) hatte Nathalie Sarraute literarische Konventionen über Romanhelden in Zweifel gezogen. Deren Worte seien nur die Spitze eines Eisbergs, nur die Oberfläche des inneren Gesprächs, dessen viel leiserer Stimme es zuzuhören gelte. Noch traten in ihren Büchern jedoch Charaktere auf, und noch spann sich zwischen ihnen ein Handlungsfaden, auch wenn alle und alles unter „Verdacht“ gerieten. In den letzten Jahren hat Sarraute das konventionelle Erzählen weit radikaler durchbrochen. In ihrem jüngsten Roman „Du liebst dich nicht“ (1989) wird das Ich nicht nur in zwei, sondern gleich in eine ganze Handvoll kleiner „Ichs“ zersplittert. Ich ist kein anderer, sondern mehrere. Die Handlung ereignet sich nicht mehr zwischen verschiedenen Charakteren, sondern innerhalb der Psyche, nicht mehr draußen, sondern drinnen. Die mannigfaltige innere Landschaft Sarrautescher ProtagonistInnen besteht dabei nicht aus hierarchisierten Schichten wie etwa dem Es, dem Ich und dem Über-Ich der Psychoanalyse, sondern wird aus vielen widersprüchlichen, nebeneinander bestehenden Stimmen gebildet. Als einer dieser zahlreichen Ich-Splitter öffentlich etwas Peinliches gesagt und getan, sich also unversehens nach außen gedrängt hat, bringt er damit alle anderen Ichs in große Verlegenheit, und die Vorwürfe der anderen Stimmen prasseln auf den Übeltäter nieder. So wird das Gefühl des Fremdseins sich selbst und den eigenen Taten gegenüber benannt.

Die inneren Stimmen streiten sich und beschuldigen einander wie kleine Kinder, wie Theaterfiguren auf der Bühne der Innenwelt. Plötzlich aber äußert eine Stimme die Diagnose, die alles Leid erklärt: Du liebst dich nicht. Dies sind die Schlüsselworte, die eine Welt von mikroskopisch erfaßten, verschwiegenen seelischen Schmerzen erschließen. Denn die Menschheit teilt sich nach Nathalie Sarraute in zwei Arten: die, die sich nicht lieben, und die, die sich lieben können. Diese verfügen, selbst wenn sie empört oder gekränkt sind, über ein wohltuendes „Eigen- Bewußtsein“, über das Gefühl der Authentizität. Sie können sogar von sich selbst als einer einheitlichen Person reden. Ihr Geheimnis jedoch bleibt undurchschaubar: „– Aber glaubt ihr nicht, daß man ihnen vor allem sehr geholfen hat... sie haben seit ihrer Kindheit nur liebevolle, bewundernde Blicke auf sich gespürt... sie sahen ihr Spiegelbild in den Augen der anderen... und dieses Bild... – Nein... das ist eben Teil unseres Unvermögens... wir können uns in den Bildern, die uns die anderen von uns zurückwerfen, nicht wiedererkennen...“

Dies ist die Tragödie dessen, der sich nicht liebt. Nichts hat ihm gefehlt, nicht einmal die Anerkennung der anderen. Nur hat sich die hoffnungslos zersplitterte Persönlichkeit in ihrem Blick nicht erkennen können. Sie hat sich ihm nicht anvertraut, sich von ihm nicht bestätigen lassen. Die Persönlichkeit dessen, der sich nicht liebt, leidet an der Durchlässigkeit der Konturen, an dem „Fehlen von Grenzen, von Grenzmarkierungen um uns herum... zu uns kommt herein, wer will...“ Er ist offen für alle Kränkungen, die die Außenwelt und der Umgang mit anderen mit sich bringen.

Nathalie Sarraute hat aus der gespaltenen Innenwelt einen neuen Locus der Handlung, eine Art Bühne gewonnen. „Du liebst dich nicht“ gibt sich als ein „Roman“. Der Text könnte aber ebensogut als ein Stück inneren Theaters bezeichnet werden. In der Theatralisierung dieser inneren Stimmen gibt es allerdings nichts Lautes, nichts Deklamatorisches. Lediglich der Maßstab der Wahrnehmung unserer psychischen Befindlichkeiten ist verändert. Nathalie Sarraute ist eine Meisterin des unendlich Kleinen. Fragte man, was denn nach einem Jahrhundert Psychoanalyse, nach Proust, Joyce oder Virginia Woolf und ihren zahllosen EpigonInnen überhaupt noch in der Innenwelt verborgen sein kann, so ließe sich nach der Lektüre Nathalie Sarrautes antworten: nichts Skandalöses, nur Kleinliches, Banales. Leid, Kränkung, Unsicherheit, Scham. Angst vor dem anderen, Empörung und Neid über das obszöne Selbstbewußtsein derer, die sich lieben – kleine Gefühle. Ihnen hat Nathalie Sarraute Gewicht verliehen. Zirkulär bewegt sich der Dialog der inneren Stimmen. Deswegen kennt ein Buch wie „Du liebst dich nicht“ keinen Höhepunkt. Es besteht vielmehr aus Variationen über ein Thema: über den Zweifel an der eigenen Einheit und Authentizität.

Wegen der Verlegung der Handlung in die Innenwelt, aber auch wegen des undramatischen, einfühlsamen Stils bildet dieser Roman, den Erika Tophoven gekonnt ins Deutsche übertragen hat, die Quintessenz der Sarrauteschen literarischen Recherche. Sie bietet keine Therapie zur Selbstliebe. Ganz im Gegenteil verhilft sie dazu, sich auch weiterhin nicht lieben zu müssen. Sie ermöglicht Versöhnung mit einem Leid, das auch seine heimlichen Wonnen hat, und rettet es vor dem Nichts, dem Unausgesprochenen. Béatrice Durand

Nathalie Sarraute: „Du liebst dich nicht“ (Roman). Aus dem Französischen von Erika Tophoven. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1992, 227 Seiten, 36 DM

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