Armut frißt die Seele auf

■ Jeder fünfte Bremer ist arm / Soziale Eingleiderung durch Armut gestört

Jeder fünfte Bremer lebt in Armut. Zu diesem Ergebnis kommt eine von der Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände in Bremen in Auftrag gegebene Studie der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung, die am Montag der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Danach lebten 1990 in der Hansestdt rund 106.000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Betroffen von Armut seien 17 Prozent der deutschen und 45 Prozent der ausländischen Haushalte in Bremen. Nicht berücksichtigt in diesen Zahlen sind die Asylbewerber.

Die Studie wendet sich nachdrücklich gegen Kürzungen im Sozialbereich und hält die Regelsätze für Sozialhilfe für zu niedrig. Wie andere Städte sollte Bremen nach Empfehlung der Studie einen „Bremer Paß“ einführen, der die kostenlose oder verbilligte Nutzung von Kulturangeboten ermöglicht. Außerdem sollte eine „integrierte Fachstelle zur Vermeidung und Behebung von Wohnungslosigkeit“ eingerichtet werden.

Die Autoren der Studie beschränken den Armutsbegriff nicht auf den Bezug von Sozialhilfe. Zugrunde gelegt wurde ein neues Berechnungsmodell, das mehrere Methoden zur Bestimmung der Armutsschwelle kombiniert. So ermittelten die Autoren 1.001 Mark als Armutsschwelle für einen Einpersonenhaushalt im Jahr 1990 — der Regelsatz der Sozialhilfe lag zu diesem Zeitpunkt bei 451 Mark. Die Zahl der Sozialhilfebezieher nahm zwischen 1986 und 1990 um 16,6 Prozent zu. Ein Drittel der Sozialhilfebezieher sind Kinder und Jugendliche.

Im Gegensatz zu anderen Sozialberichten läßt die neue Studie auch Betroffene zu Wort kommen. Befragt wurden 19 Erwachsene und zwei Kinder. Außerdem schildern 16 Träger der Freien Wohlfahrtspflege sowie andere Experten die Armut aus ihrer Sicht. Danach reicht das zur Verfügung stehende Einkommen oft nicht einmal zur Deckung der notwendigsten Bedarfe bis zum Ende des jeweiligen Zahlungszeitraums. Viele Dienstleistungen, aber auch Kulturangebote, sind für Arme unerschwinglich, geht aus der Studie hervor. Für Sozialbenachteiligte herrsche in Bremen Wohnungsnotstand. Viele Sozialhilfeempfänger empfinden den Gang zum Sozialamt als demütigend und abschreckend und fühlen sich teilweise der Willkür von Sachbearbeitern ausgesetzt.

Zu wenig Geld, das heißt auch auf Einladungen und Besuche von Freunden und Verwandten zu verzichten — weil das Geld zur Bewirtung oder für Geschenke fehlt. Keine Geschenke kaufen zu können, belastet gerade jetzt viele besonders. „Das schlimmste ist, wenn Weihnachten kommt, wo ich so wenig Geld habe und ich nichts schenken kann. Das bedrückt mich sehr.“ Selbst bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln sind Arme oft auf ungesunde Lebensmittel angewiesen. Renovierungen, Reparaturen oder Friseurbesuch sind nach Erkenntnissen der Wohlfahrtsverbände für rund 20 Prozent der Bremer fast unerschwinglich. Unvorhergesehene Ereignisse führen oft zur Überschuldung, die die Lage weiter verschlimmert. dpa