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Ayacucho zwischen den Fronten

Peruanische Regierung will mit Dorfmilizen gegen Sendero Luminoso kämpfen/ Selbstverteidigungskomitees der Bauern bieten kaum Schutz/ Befriedung des Landes in weiter Ferne  ■ Aus Huayao Ralf Leonhard

Die Vergeltung erfolgte um Mitternacht. Als Manuel Yukra Urbano auf seinem Wachposten die ersten Schüsse vernahm, rannte er um sein Leben. Der 65jährige warf seine selbstgebastelte Flinte weg und ging in Deckung. Auch die anderen fünf Posten suchten schleunigst das Weite, während die Angreifer das peruanische Andendorf Huayao überrannten. Die 20jährige Margarita Yarus Aguilar berichtet, wie sie, mit der betagten Mutter an der Hand, aus ihrer Hütte flüchtete: „Meine Mutter konnte nicht schnell genug laufen und wurde niedergemacht.“

Keiner weiß genau, wie viele in der Nacht vom 11. auf den 12.Oktober über das Dorf herfielen: es war stockdunkel, und die überlebenden Zeugen waren damit beschäftigt, die eigene Haut zu retten. Sicher ist nur, daß es sich um Mitglieder der maoistischen Untergrundorganisation „Sendero Luminoso“ handelte, die die Dorfgemeinschaft seit Wochen bedroht hatte. Ziel der Aktion war nicht die Hinrichtung einzelner Personen, sondern die Bestrafung der Dorfgemeinschaft. Wahllos wurden 28 der 120 Lehmhäuser niedergebrannt, unter den 47 Toten, die am nächsten Morgen gezählt wurden, fanden sich zwölf Kinder und achtzehn Frauen.

Noch fünf Wochen nach dem Massaker ist Huayao ein gespenstischer Ort: Während sonst in den Dörfern die Kinder herumtollen und um ein Foto betteln, sind die jüngsten Einwohner von Huayao scheue Wesen, die sich verkriechen oder beim Anblick von Fremden gar in Tränen ausbrechen. Die verkohlten Mauern der abgebrannten Hütten wurden noch nicht weggeräumt, einige der verstreut liegenden Häuschen heben sich durch ein neues Wellblechdach von den grasgedeckten Hütten ab. Die Überlebenden verziehen keine Miene, wenn sie über die entsetzlichen Ereignisse jener Oktobernacht berichten.

Die vierstündige Fahrt von Ayacucho nach Huayao führt über einen umkämpften Paß. An den Straßenrändern liegen die verkohlten Wracks von Fahrzeugen, die von Sendero abgefackelt wurden. Huayao selbst liegt auf etwa 3.000 Metern Höhe in einem fruchtbaren Tal, drei Stunden Fußmarsch vom nächsten Militärposten entfernt. Auf den Ruf des Dorflehrers hin, der sich als Dolmetscher zur Verfügung stellt, werden die Männer, die mit kleinen Hacken die kargen Felder umgraben, zusammengetrommelt. Die wenigen, die ein bißchen herumgekommen sind, können sich in Spanisch verständlich machen. Die Alten in ihren hundertmal geflickten Hosen und die Frauen, die weite Röcke und dunkle Filzhüte tragen, sind nur der Inka-Sprache Quechua mächtig.

„Wir Männer waren in der Selva bei der Arbeit“, erklärt Alejandro Vargas, der amtierende Chef der Zivilverteidigung, die Ohnmacht der Dorfbewohner gegenüber einem der schlimmsten Massaker, seit die maoistische Fraktion der Kommunistischen Partei Perus, besser bekannt als Sendero Luminoso oder „Leuchtender Pfad“, vor zwölf Jahren den bewaffneten Kampf aufnahm. Der Anbau von Mais, Knollenfrüchten und Bohnen reicht nicht mehr aus, um die über hundert Familien der indianischen Dorfgemeinschaft zu ernähren. Die Männer müssen daher Lohnarbeit auf den Kaffee-, Kakao- und Koka-Plantagen der Selva suchen, in den nahe gelegenen Tälern der tropischen Urwaldregion. Deswegen blieb die Verteidigung in der Hand der Alten.

Seit 1984, als die Krieger des Leuchtenden Pfades in Huayao 15 Personen massakrierten, hat sich die Dorfgemeinschaft auf die Seite der Armee geschlagen und jeden Infiltrationsversuch der radikalen Guerilla zurückgewiesen. Vor ein paar Monaten faßte der Ältestenrat dann den fatalen Beschluß, eine bewaffnete Selbstverteidigung zu organisieren. Die Dorfbewohner mußten mehrere Kühe und Schafe verkaufen, um von gewissenlosen Händlern zwei alte Mauser-Gewehre für den horrenden Preis von je 1.200 Dollar zu kaufen. Allerdings sagte ihnen keiner, daß für das seltene Kaliber in Peru kaum Munition zu bekommen ist. Mit diesen Gewehren ohne Munition und ein paar an Spielzeugwaffen erinnernde Schießprügel, die der Dorfschmied aus rostigen Eisenrohren und Holzstücken zusammengebastelt hatte, waren die Posten ausgerüstet, als Sendero attackierte. Erst einige Tage nach dem Überfall kam Präsident Alberto Fujimori im Hubschrauber eingeflogen und verteilte zwanzig Winchester-Schrotflinten. Doch selbst damit sind die Bauern den Sendero-Kämpfern nicht gewachsen.

„Da ist schon was dran, daß die Leute mit dieser Bewaffnung zur leichten Beute der Senderistas werden“, räumt General Ronald Rueda Benavides, der Kommandant der Militärzonen Ayacucho und Huancavelica, ein. Doch andere Waffen seien von der Regierung nicht autorisiert. Offenbar fürchtet man in Lima, daß brauchbare Kriegswaffen irgendwann auch in die andere Richtung gerichtet werden könnten. Die Selbstverteidigungspatrouillen, sogenannte rondas, die anerkannt und registriert sind, werden von der Armee ausgerüstet und trainiert. Doch funktionieren sie weniger als Abwehrkräfte nach außen denn als Instrumente der Überwachung nach innen. Alle Infiltrationsversuche müssen dem nächsten Armeeposten gemeldet werden. Die Organisation sei völlig freiwillig, beteuert General Rueda, gibt aber zu, daß gegen Gemeinden, die die rondas ablehnen, sofort eine Untersuchung eingeleitet wird: „Schließlich muß man sich fragen, warum sie nicht wollen.“ Außerdem werden die rondas auch systematisch für Strafaktionen gegen Gemeinden, deren Einwohner als Sendero-Sympathisanten gelten, eingesetzt. Deswegen ziehen es viele Dörfer vor, sich selbst zu organisieren, nur um sich derartige Überfälle vom Leib zu halten.

Der 42jährige Mauro Huaraca, Vorsitzender des Verteidigungskomitees eines Vorortes von Quinua, rund 40 Minuten nördlich von Ayacucho, protestiert gegen den Mißbrauch der rondas durch die Armee. Er gibt zu, daß sein Dorf sicherer geworden ist, seit dort patrouilliert wird. Doch immer wieder würden seine Leute um Mitternacht aus dem Bett geholt und auf Militäraktionen mitgeschleppt: „Wir wollen nicht über andere Bauern herfallen oder uns als Kanonenfutter gegen Sendero hergeben.“

Allgemein wird der blutige Überfall auf Huayao als Zeichen der Schwäche gedeutet. „Sie haben das wehrloseste der organisierten Dörfer ausgewählt, um ein Exempel zu statuieren“, glaubt der General. Ohne Zweifel befindet sich Sendero in Ayacucho, wo die Organisation ihre Wurzeln hat, auf dem Rückzug. Doch die von den Militärs gepriesenen Selbstverteidigungspatrouillen sind nur einer von mehreren Gründen für den Terrainverlust in den letzten Jahren. Carlos Loayza, der Chef der José-Maria-Arguedas-Stiftung für angepaßte ländliche Entwicklung, hat jahrelang im traditionellen Sendero-Gebiet in verschiedenen Gemeinden gearbeitet. „Viele Dörfer, die bereits unter Kontrolle waren, sind nach einiger Zeit ,desertiert‘. Denn das Gerede von sozialer Gerechtigkeit funktioniert nicht mehr, wenn die Bauern merken, daß nichts dahintersteckt.“

Anfangs setzte Sendero seine besten Leute ein, um die Bauern zu gewinnen. Sie regelten Streitigkeiten im Dorf und erzählten von der Gesellschaft der Zukunft, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende finden und alle Güter gerecht verteilt würden. Diese Politkader, meist Intellektuelle aus der Stadt, hinterließen nach einigen Monaten einen Einheimischen als Politkommissar. In Huayao, erinnert sich Carlos Loayza, war der erste Organisator besonders gut und sein Nachfolger extrem schlecht. Diese Leute, die versprochen hatten, sie würden die Gemeinde schützen, verloren jede Glaubwürdigkeit, als sie beim ersten Angriff der Armee das Weite suchten. Das war in den Jahren 1982/83.

Auch die Armee, die Anfang des letzten Jahrzehnts mit blankem Terror gegen alle Verdächtigen vorging, hat dazugelernt. „Zum Teil kann man das auf Mangel an Erfahrung zurückführen“, versucht General Rueda die systematischen Übergriffe der Vergangenheit zu rechtfertigen. „Wir haben aber gemerkt, daß wir auf diese Art den Krieg nicht gewinnen können.“ Heute arbeiten die Streitkräfte verstärkt mit nachrichtendienstlichen Methoden und versuchen die Bevölkerung durch „zivile Aktionen“ zu gewinnen. Die Militärs kommen mit Ärzten in ein Dorf, ziehen Zähne, schneiden Haare und verteilen Kleidung und Lebensmittelpakete. „Leider haben wir dafür kein eigenes Budget“, klagt der General, „wir sind darauf angewiesen, daß wir Material aus Lima bekommen.“

Seit im September Abimael Guzman, der Gründer und ideologische Anführer des Leuchtenden Pfades, in Gefangenschaft geriet, haben die Regierungskräfte die Initiative gewonnen. Auch in Ayacucho konnte ein Dutzend wichtiger Politkader gefaßt werden, denen wegen Vaterlandsverrat der Prozeß gemacht wird. Und selbst im militärischen Kampf gegen den schlüpfrigen Feind hat die Armee Punkte gemacht.

Sendero ist schwer zu fassen. Seine Truppen bewegen sich selten in Gruppen von mehr als acht Mann. Für größere Aktionen mobilisieren sie Mitläufer aus den Dörfern, die nach vollbrachter Tat die Waffen wieder abgeben müssen und an ihre Arbeit zurückkehren. Feste Lager gibt es kaum. Deswegen feiert General Rueda den Schlag gegen ein Ausbildungszentrum im dichten Dschungel von Viscatan, 35 Minuten im Hubschrauber von Ayacucho, als außergewöhnlichen Erfolg. Das Camp, das aus der Luft mit Raketen und MG-Salven attackiert wurde, soll für 300 bis 400 Kämpfer eingerichtet worden sein – doppelt so viele, wie der General insgesamt in seinem Zuständigkeitsgebiet vermutet.

So erfolgreich der Kampf gegen Sendero Luminoso derzeit erscheint, so wenig glauben Experten an eine echte Befriedung des Landes, schon gar nicht bis zum Ende von Fujimoris Amtszeit im Jahre 1995, wie der Staatschef versprochen hat. Die extreme Armut, der Nährboden für radikale Bewegungen, hat sich unter der herrschenden Regierung noch verschärft. Während Sendero im Norden von Ayacucho Schritt für Schritt zurückweicht, beginnt er im Süden erst richtig Fuß zu fassen. Und selbst dort, wo die maoistischen Kämpfer politisch nichts mehr erreichen können, sind sie militärisch immer wieder präsent.

Der 6. Militärplan Senderos, erst kurz vor der Festnahme von Guzman entworfen, ist der Armee bisher nicht in die Hände gefallen. Nach dem Prinzip der strategischen Zentralisierung und taktischen Dezentralisierung sind die Rahmenanweisungen an die Basisgruppen und Liquidationskommandos längst ergangen. Sie brauchen ihren obersten Führer nicht, um weiter zu kämpfen. Die sozialen Maßnahmen, mit denen die Regierung den Einfluß der „Subversion“ eindämmen will, sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. In Huayao hat der Agrarminister nach dem jüngsten Überfall Investitionen von drei Millionen Dollar für ein Bewässerungs- und Trinkwasserprojekt versprochen. Für mehrere Monate werden die Männer daher im Dorf Beschäftigung finden und müssen keine Lohnarbeit auf den Koka- Plantagen suchen. Aber wenn das Werk vollendet ist, dann stellt sich für die meisten Familien wieder die Existenzfrage. Ganze Dörfer sind ausgestorben, weil alle Einwohner weggezogen sind. Sie bevölkern heute die Elendsgürtel am Rande von Ayacucho und Lima.

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