■ Offener Brief an die RichterInnen in Karlsruhe
: Üben Sie Selbstbeschränkung!

Es gibt wenige Fragen in der Gesellschaft, über die seit Jahrzehnten in Deutschland so heftig diskutiert worden ist und diskutiert wird, wie die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Schwangerschaftsabbrüche rechtlich zulässig sein sollen. Schon einmal Gesetz waren das Verbot der Abtreibung, das Fristenmodell, das Indikationsmodell. Jedes Modell sah sich heftigen moralischen und verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes von 1975 und das auf der Basis dieser Entscheidung gesetzlich beschlossene Indikationsmodell führten nicht dazu, daß die Diskussion abriß. Bis zur Entscheidung des Gesetzgebers im Jahre 1991 ist jeder Satz des Grundgesetzes und jeder Satz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 mehrfach ausgedeutet und interpretiert worden mit dem Ergebnis, daß sich die Gesellschaft in zwei Lager gespalten hat. Wir sind in einer Situation, in der alle Bürger und Bürgerinnen in einem politischen Sinne nicht mehr unvoreingenommen sind.

Politisch unvoreingenommen sind auch nicht die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. Sie mögen selbst entscheiden, wo die Grenzen zwischen politischer und juristischer Unvoreingenommenheit verläuft. Wichtig ist uns jedoch folgendes: In einer Situation, in der eine hochpolitische und eine hochmoralische Frage vor das Bundesverfassungsgericht kommt und in der es keine verfassungsrechtlichen Argumente mehr gibt, die nicht schon mehrfach geäußert und widerlegt worden sind, erwarten wir von den Mitgliedern des Gerichts ein Höchstmaß an richterlicher Selbstbeschränkung. Nur dieses garantiert, daß das zu treffende Urteil nicht als bloße Verlängerung einer gesellschaftlichen und politischen Debatte verstanden werden muß. In den Bundestagsdebatten über das Gesetz sind alle moralischen und rechtlichen Argumente geäußert und erwogen worden. Es ist zu einer Kompromißlösung gekommen, was zeitweise kaum noch zu erwarten war. Mit seltenem Ernst hat sich der Deutsche Bundestag um eine Regelung bemüht, die möglichst vielen Aspekten gerecht werden soll.

In dieser Situation hielten wir es für einen Beweis von Voreingenommenheit, wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung lediglich den Argumenten der Gegner der vom Bundestag verabschiedeten Kompromißlösung folgen würde. Wir halten Sie lediglich dann für legitimiert, das Ihnen vorliegende Gesetz für verfassungswidrig zu erklären, wenn Sie Argumente von überragender Bedeutung Ihrer Entscheidung zugrunde legen könnten, die in der bisherigen Diskussion nicht erwähnt worden sind. Wir fügen hinzu, daß wir solche Argumente nicht sehen. Juliane Huth, Helga Wullweber

Rechtsanwältinnen, erstere stellvertretende Vorsitzende, letztere Vorstandsmitglied im Republikanischen Anwaltsverein