■ Auf der Suche nach den „geistigen Grundlagen“ der Tschechischen Republik werden nationale Mythen belebt
: Jan Hus und die neue Nomenklatura

„Nomenklatura-Kapitalismus“ – so lautete der Titel eines Kommentars, den der Wirtschaftsjournalist Karel Křiž in der liberal- konservativen tschechischen Tageszeitung Lidové noviny veröffentlichte. Anlaß seiner Abrechnung mit dem „Pragmatismus“ des tschechischen Ministerpräsidenten Václav Klaus und seiner „Bürgerlich-demokratischen Partei“ (ODS) war eine Affäre, die tagelang die tschechoslowakische Öffentlichkeit beschäftigte: Miroslav Macek, stellvertretender Ministerpräsident der Noch-Tschechoslowakei, hatte gemeinsam mit einem ehemaligen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes ein Unternehmen, das auf einen Gesamtwert von 500 Millionen Kronen (ca. 30 Millionen DM) geschätzt worden war, für ganze 60 Millionen erworben. Daß er für dieses „Geschäft“ seine guten Beziehungen zu den zuständigen Ministerien genutzt hatte, stand nicht nur für die Opposition außer Zweifel. „Erschwerend“ kam hinzu, daß Macek als Abgeordneter der Prager Föderalversammlung gleichzeitig das „Gesetz über den Konflikt von Interessen“ verhindert hatte, das staatlichen Funktionsträgern eine Tätigkeit als Unternehmer verbieten sollte.

Doch der „Fall Macek“ ist nur die – mehr zufällig zum Vorschein gekommene – Spitze eines Eisberges. „Interessenkonflikte“ bestimmen in der ČSFR heute den Prozeß des „Aufbaus eines kapitalistischen Systems“. So sind Insider davon überzeugt, daß der frühere Landwirtschaftsminister Bohumil Kubát durch die Privatisierung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu einem der reichsten Männer des Landes wurde. Aus dem Privatisierungsministerium ist zu hören, daß außer dem Minister kein verantwortlicher Mitarbeiter ohne Bestechungsgelder gearbeitet hätte.

Und so kann auch der überzeugteste Verteidiger des „freien Spiels der marktwirtschaftlichen Kräfte“ nicht mehr leugnen, daß im nachrevolutionären Prag die Zugehörigkeit zum Staatsapparat die wichtigste Voraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften bildet. Gleichzeitig beschränkt sich die Nomenklatura jedoch nicht nur auf die „rein“ ökonomischen Bereiche, auch der kulturelle Sektor wird immer mehr von Angebot und Nachfrage bestimmt. Die feierliche Wiedereröffnung des Stände- Theaters mit einer Inszenierung von „Don Giovanni“ wäre ohne „Johny Walker“ kaum möglich gewesen.

Die Verlierer der fast ausnahmslosen „Ver-Kapitalisierung“ eines ganzen Landes sind natürlich zunächst diejenigen, denen es nicht möglich ist, auf die ein oder andere Art und Weise „gschefty“ zu machen. Doch viele ArbeiterInnen und RentnerInnen standen dem Reformprozeß von Anfang an so oder so skeptisch gegenüber. Die Erkenntnis, erneut „verraten“ und „betrogen“ zu werden, stellt sich damit heute in erster Linie bei all jenen ein, die mit ihrer Wahl der ODS eine Rückkehr alter Verhältnisse verhindern wollten, deren konservatives Glaubensbekenntnis von der Politik Margaret Thatchers und Ronald Reagans bestimmt wurde.

Doch genau dieser Glauben scheint nun im Wildwuchs marktwirtschaftlicher Korruption unterzugehen. Wer die „Marktwirtschaft ohne Adjektive“ – wie etwa sozial oder ökologisch – zum obersten Ziel erhoben hat, lockt damit westliche Investoren ins Land, „moralische Normen“ – wie von Křiž angemahnt – werden dadurch nicht geschaffen. Wer ständig davon spricht, daß jeder einzelne Bürger aktiv werden müsse, kann nun schwer verhindern, daß jeder „aktiv“ in die eigene Tasche wirtschaftet. Zugleich gibt es aber auch in der ODS keinen Politiker, der die „Grenzen des Kapitalismus“ formulieren könnte. Die Partei, die sich stets als die Speerspitze des wirtschaftlichen Umbaus betrachtete, verfügt nicht zufällig über eine ganze Reihe Ökonomen, nicht aber über Juristen, Historiker oder Politologen.

Mit dem Auseinanderbrechen der ČSFR verschärft sich nun der geistige Notstand der ODS und ihres Vorsitzenden. Während die BürgerInnen bisher stolz auf die „Demokratie der Ersten Tschechoslowakischen Republik“ sein konnten, beginnt nun die Suche nach den Pfeilern der neu entstehenden „Tschechischen Republik“. Im Unterschied zur Slowakei kann Böhmen seine neue Identität nicht in der Kritik des Prager Zentralismus suchen, denn für diesen Zentralismus war ja man selbst verantwortlich. Identitätsstiftend wirkt auch nicht die Tradition der demokratischen Opposition. Denn weder Klaus noch ein Großteil seiner Wähler gehörten ihr an.

Statt dessen begann man auf nationale Mythen zurückzugreifen. So fand Ende Oktober auf dem Prager „Nationalfriedhof“ eine „Feier zur Erneuerung der tschechischen Staatlichkeit“ statt, bei der die Politiker sich mit Kerzen in den Händen die Bedeutung von Jan Hus und Kaiser Karl IV. auch für die heutige Zeit zu vergegenwärtigen suchten.

Daß auch die katholische Kirche dem Reformator zu neuen Ehren verhilft, kennzeichnet die Richtung der gegenwärtigen Diskussion. Im Gegensatz zur Kommunistischen Partei, die den sozialrevolutionären Aspekt der Hussitenbewegung betonte, geht es nun um die Stiftung einer tschechischen Nationalkirche, um den Rektor einer Universität, der durch seine Reformen den Einfluß der tschechischen Professoren stärkte und– den der deutschen schwächte.

Das antideutsche Element bestimmt auch die Anknüpfung an die Traditionen des 19. Jahrhunderts. Denn schließlich war vor allem die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts von dem Sprachenstreit mit den Deutschen Böhmens geprägt. Es gelang damals, ihren Einfluß in Politik und Ökonomie zurückzudrängen.

Die Stilisierung der eigenen Geschichte in Zeiten „nationaler Katastrophen“ stellt für Böhmen freilich kein neues Phänomen dar. Auf den ersten Blick überraschend wirkt jedoch, daß auch Klaus, dessen politische Konzepte ausnahmslos von den „bewährten“ Organisationsformen der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts bestimmt sind, einen geistigen Ausflug in vergangene Jahrhunderte unternimmt. Übersehen wird dabei, daß der Chef der Nomenklatura-Kapitalisten sich nicht zum „Vorkämpfer für Demokratie und Rechtsstaat“ entwickeln konnte. Denn die von ihm beförderte Parteiherrschaft vergreift sich eben nicht nur an den Wirtschaftsunternehmen. Als „wahre“ Nachfolgerin der realsozialistischen Nomenklatura dehnt sich ihre Kontrolle auch auf staatliche und gesellschaftliche Funktionen aus: Ohne das richtige Parteibuch kann heute in der Tschechischen Republik niemand mehr etwas werden.

Für die Verteidigung der erneut in Gefahr geratenen Demokratie könnte somit einmal mehr Václav Havel zuständig sein. So sehen es zumindest die Kommentatoren der Lidové noviny, so sieht es auch der zukünftige tschechische Staatspräsident selbst. Da Klaus es– aus vorgeblich technisch-ökonomischen Gründen – ablehne, dem neuen Staat durch Parlamentswahlen eine „demokratische Legitimität“ zu verschaffen, soll dieses Ziel durch die Direktwahl des früheren Dissidenten erreicht werden. Da dieser sich vor allem mit der ökonomischen Rückkehr nach Europa beschäftige, müsse er den geistigen Part übernehmen. Bisher jedoch hat Klaus die Direktwahl Havels stets abgelehnt. Der tschechische Premier braucht zwar ein intellektuelles Aushängeschild, auf einen starken Gegenspieler kann er gut verzichten. Sabine Herre