piwik no script img

Die Angst vor der Liebe

Der ökonomische Imperialismus des Nobelpreisträgers Gary S. Becker Ehescheidung ausschließlich ein ökonomisches Kalkül  ■ Von Kurt Hübner

Würde man die Sozialwissenschaften danach beurteilen, welche Beiträge sie zur Bewältigung gravierender Defekte realexistierender Gesellschaften beitragen – die ökonomische Theorie bekäme äußerst schlechte Zensuren. Zwar sind ihre Rezepturen nicht untauglicher als die von Soziologie oder Politologie. Der Grund ihres miesen Abschneidens liegt vielmehr darin, daß eine Mehrheitsströmung der Wirtschaftsforscher sich seit geraumer Zeit nicht länger mit realhistorischen Problemen beschäftigt. Die ökonomische Theorie ist heute weitgehend – Ausnahmen bestätigen nur die Regel – zu einer Wissenschaft der Selbstreferenz mutiert: Nachgedacht wird nur über Variationen eines empirieleeren Modelltyps – Ökonomie im Niemandsland. Es zählt allein, dem Fachkollegen zu zeigen, daß die konsequente Umsetzung der neoklassischen Methodik zur Veröffentlichung immer neuer Aufsätze führt. Belohnt wird dieses Engagement mit Nennungen im berüchtigten Citation Index, die wiederum die Voraussetzung für höhere Dotationen der Autoren darstellen. So gesehen ist es nur konsequent, wenn das – auf durchsichtige Weise selbstreferenziell operierende – Nobelpreiskomitee dieses Jahr einen Ökonomen kürt, dessen Arbeiten nahezu allesamt den Irrelevanzkriterien einer aufgeklärten Wissenschaftskritik genügen.

Die Rede ist von Gary S. Becker aus Chicago, dessen Arbeiten wenig zu traditionellen Themen der Ökonomie beitragen. Becker hat sich vor allem mit der Ökonomie der Familie, der Geburtenraten, der Heirat, der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der Diskriminierung, des Humankapitals, der Liebe undundund beschäftigt. So überwältigend breit angelegt und so inhaltlich außergewöhnlich dieses Arbeitsfeld für einen Ökonomen erscheint, so schmalbrüstig, um nicht zu sagen dürftig ist sein analytischer Apparat. In bester neoklassischer Tradition werden gleichgewichtsichernde Marktmechanismen unterstellt: Vorlieben und Orientierungen bleiben stabil, die Akteure verhalten sich nutzenmaximierend. Und schon läßt sich jedes auch noch so menschliche Problem in der rationalen Sprache ökonomischer Kalküle erörtern – und lösen.

Was etwa Generationen von Schriftstellern Stoff für Liebes- und Ehedramen und Hollywood Anlaß für Tränenströme bot – der einem strikten Rationalitätskalkül verpflichtete Gary S. Becker reduziert es radikal und konsequent auf einige wenige Formalzusammenhänge. Die in aller Regel von beträchtlichen Nerven- wie Persönlichkeitskrisen begleitete Auseinandersetzung von Eheleuten über eine Auflösung der Ehe und die Aufteilung der angehäuften sachlichen wie menschlichen „Schätze“ ist ihm zufolge allein eine Frage der Relation von zusammengefaßten Ehe- und zusammengefaßtem Scheidungseinkommen. Vor- oder Nachteile der Scheidungsgesetze spielen für Becker keinerlei Rolle; ausschließlich die Beteiligten selbst entscheiden in diesem Modell des Rationalkalküls. Ihre Verhandlungen ähneln dem Gebaren auf Basaren oder Trödelmärkten.

Ist die Summe der Einkommen der Ehepartner bei einer Scheidung höher, als wenn sie zusammenbleiben, hat zumindest einer ein starkes Interesse, die Ehe aufzulösen. Wenn die Gesetze eine Scheidung auf einseitigen Wunsch eines Partners zulassen, würde die Ehe auch dann aufgelöst werden, wenn der Einkommensverlust eines Partners im Scheidungsfall höher ausfällt als der Einkommensgewinn des anderen Partners. Dazu wird es freilich nicht kommen, denn der von einer Auflösung der Ehe einkommensmäßig geschädigte Partner wird versuchen, den anderen zu bestechen, so daß sich beide Eheleute mit Aufrechterhaltung der Ehe besser stellen als mit einer Scheidung. Eine Ehescheidung erfolgt in diesem Modell nur dann, wenn die Summe der Scheidungseinkommen höher ausfällt als die Summe der Eheeinkommen. Dann sieht sich der von einer Scheidung negativ betroffene Ehepartner außerstande, einen erfolgreichen, weil ökonomisch verwirklichbaren Bestechungsversuch vorzunehmen. Eine Ehe basiert demnach nicht auf Liebe und Zuneigung. Was zählt, ist allein der Marginalnutzen der bürgerlichen Zweckgemeinschaft.

Mit der gleichen Methode erklärt Becker auch andere menschliche Verhaltensweisen. Geht man mit Becker davon aus, daß Frauen die biologischen Dispositionen der Gebärfähigkeit und der Kindererziehung haben, während Männer eher über Dispositionen zu Marktaktivitäten verfügen, dann kann nach seiner Rationalitätslogik eine ungleiche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu einer höchst rationalen Angelegenheit erklärt werden! Spezialisieren sich nämlich Frauen auf die hauswirtschaftlichen und erzieherischen und Männer auf die marktwirtschaftlichen Aktivitäten und übersteigen die so erzielten Spezialisierungsgewinne die Erträge einer gemeinsamen Ausführung der Haushalts- und Erziehungsarbeiten, dann steigert diese Form der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern das Familieneinkommen. Für Gleichberechtigung und ein Aufbrechen der Arbeitsteilung gibt es bei diesem Kalkül keinen Platz und vor allem keine Notwendigkeit.

Problematisch daran sind nicht in erster Linie die extrem konservativen wirtschafts- wie gesellschaftspolitischen Schlußfolgerungen. Das eigentliche Problem ist die von Becker konsequent durchgehaltene Anwendung einer kalten Mechanik, die anthropogen konstant immer und überall wirksam sein soll. Rationalkalkültheoretiker wie Becker reduzieren andere als rationale menschliche Motive auf Banalitäten; alle Regungen erscheinen ihnen ökonomisierbar. Freilich ist Becker und mit ihm das Nobelpreiskomitee nicht konsequent: Eine Wissenschaft mit progressiv abnehmender Grenzerkenntnis hätte längst ihre Tätigkeit einzustellen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen