: Ungerechtigkeit hat viele Gesichter
■ Judith N. Shklars „Faces of Injustice“: Unrechtsempfinden als individuelles, moralisches Gefühl, das nicht einfach nur mangelnde Gerechtigkeit bedeutet
Am Beginn von Judith N. Shklars Betrachtungen steht der Hinweis auf ein Mißverhältnis. Ungerechtigkeit ist nicht einfach mangelnde Gerechtigkeit. Allein von der Gerechtigkeit her bestimmt, wäre sie unterbestimmt. Praktisches Ziel der Gerechtigkeit ist die Rechtsnorm, ist die Formulierung allgemeiner Prinzipien für eine gerechte Gesetzgebung. Es kann immer nur um „Makrogerechtigkeit“ gehen, während unser Unrechtsempfinden ein mikrologischer Sinn ist. „Wir erfahren Unrecht als etwas Spezifisches und Konkretes“. Aber treten wir als Kläger in die Schranken des Gerichts, „scheint es unmöglich zu sein, Individuen so zu behandeln, wie sie wirklich sind und nicht bloß als Rechtspersonen.“
Diese Asymmetrie hat ihre eigene psychologische Dimension, und Shklar, die eine wache Beobachterin ist, findet zahlreiche Anlässe, sie zu thematisieren. Kein Wunder, so scheint es, daß es um die Gerechtigkeit im allgemeinen nicht übermäßig gut bestellt ist – wo es doch vornehmlich die punktuellen Ereignisse sind, die die Gemüter erregen. Im Reich des Individuellen erweist sich der Sinn für Ungerechtigkeit als das, als was Shklar ihn lobt: als das „Herzstück der modernen demokratischen, politischen Empfindsamkeit“. Hier zeigt sich seine politische Funktion: „unser bester Schutz vor Unterdrückung“ zu sein.
Dem gegenüber steht das politische Versagen. Shklar zitiert Cicero mit dem Satz: „Wer dem Schlechten nicht entgegentritt oder es verhindert, hat er die Macht dazu, ist ebenso schuldig, unrecht gehandelt zu haben, als verriete er sein Vaterland.“ Neben der aktiven Ungerechtigkeit gibt es die passive. Sie rührt her vom Mangel an Bürgersinn, zeigt das Fehlen republikanischer Tugend: „Betrug und Gewalt zu verhindern, wenn wir es können, ist eine Handlung, die uns als Bürgern ansteht, und keine Handlung aus Humanität.“ Das muß tatsächlich mal gesagt werden.
„Erkundungen zu einem moralischen Gefühl“ verspricht der Untertitel. Eindeutige Definitionen, trennscharfe Kategorien und eine strenge Gliederung des Ganzen wird der Leser vergeblich suchen. Shklars Medium ist der Essay, dessen kompositorische Freiheiten der sprachlichen Leichtigkeit dieses im übrigen vorzüglich übersetzten Buches zustatten kommen – allerdings auch seiner gedanklichen Leichtigkeit, um nicht zu sagen Sorglosigkeit.
Deutlich wird das an ihrer Behandlung der Kernfrage. Wann regt sich der Sinn für Ungerechtigkeit mit Recht? Worin unterscheiden sich seine Äußerungen von Frustrationen, wie sie mit Negativerlebnissen jedweder Art verbunden sind? Wann ist etwas ein Unglück, vor dem wir resignieren müssen, wann eine Ungerechtigkeit, die Widerstand fordert? Shklar antwortet: „Ist die Erwartung, es sei möglich, ein natürliches Unglück zum Besseren zu wenden, einmal geweckt worden, dann wird es ungerecht, die Hoffnungen der Opfer zu enttäuschen.“ Sobald beispielsweise Technologien vorhanden sind, um das mit den Leiden von Schwangerschaft und Mutterschaft geschlagene Geschlecht der Frauen von diesen, wie Shklar sie nennt, „Behinderungen“ zu befreien – etwa indem Kinder künstlich ausgetragen werden –, muß ihnen auch die Möglichkeit dazu gegeben werden. Anderes zu tun hieße, „ihnen etwas zu verweigern, dessen Erwartung in ihnen geschürt worden ist: die Verfügbarkeit technischer Mittel, um sie von Schmerzen und Plackerei zu befreien und ihnen zu erlauben, ein erfülltes und schöpferisches, gesellschaftliches Leben zu führen“. Vielleicht ist man bei dieser Frage in den USA ja schon so weit. Die Freiheit des pursuit of happiness ist eine liberale Institution – weshalb also sollten die feministischen VertreterInnen des Liberalismus von dessen Kehrseite verschont bleiben: dem technoiden Wahn?
Gleichwohl stimmt: Die Grenze zwischen Unglück und Ungerechtigkeit ist im Fluß, und das Wachsen menschlicher Verfügungsgewalt hat damit zu tun. Was vorgestern noch ein Unglück gewesen wäre – ein Massensterben wie das in Somalia –, ist heute Ungerechtigkeit. Denn indem das Reich des Unabänderlichen schrumpft, wird die Erklärung, man habe nichts machen können und darum sei, was passierte, ein Unglück, zur zynischen Ausrede von Ideologen.
Fulminant ist der Auftakt des zweiten, des mittleren Essays: „Die Neuzeit hat viele Geburtstage. Mir ist jener Tag im Jahre 1755 der liebste, an dem Lissabon von einem Erdbeben heimgesucht wurde.“ Wie das? Shklar rühmt natürlich nicht die Zerstörung einer reichen und prächtigen Stadt, noch den Tod von Tausenden. Es ist die intellektuelle Reaktion, die die Zäsur schafft. Europaweit erhob sich ein Aufschrei gegen die göttliche Ungerechtigkeit – zum allerletzten Mal. „Seither lag die Verantwortung für unsere Leiden ganz bei uns und einer gleichgültigen Natur.“ Für das Gerechtigkeitsempfinden wahrhaftig der Beginn einer neuen Zeit.
Wie ein roter Faden durchzieht das Buch die Aufforderung, den Standpunkt der Opfer einzunehmen, auf ihre Stimme zu hören und ihr subjektives Empfinden zu achten, das vom gewöhnlichen Modell der Gerechtigkeit fast zwangsläufig vernachlässigt wird. Darum überzeugt Shklars Zugriff, die Sache einmal vom anderen Ende, von der Ungerechtigkeit her anzufassen. Denn wie bemerkt sie treffend? „Aller Wahrscheinlichkeit nach haben die meisten von uns häufiger gesagt, „dies ist unfair“ oder „dies ist ungerecht“ als „dies ist gerecht“. Eine einfache Beobachtung, ein deutlicher Fingerzeig. Die in Deutschland viel zuwenig bekannte, im Sommer verstorbene Autorin ist ihm mit bemerkenswertem Spürsinn nachgegangen. Joachim Güntner
Judith N. Shklar: „Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl“. Übersetzt von Christiane Goldmann. Rotbuch Verlag, Berlin 1992, 224 Seiten, 34 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen