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■ Grand Slam CupStich keine Einjahresfliege

Jessica Stich rutschte unruhig auf ihrem Sitz in der Spielerloge hin und her. Ihre Nervosität war verständlich, denn es ging um 1.000.000 Dollar, die ihr angetrauter Mann bei einem Sieg über den US-Amerikaner Pete Sampras für die Finalteilnahme beim Münchener Grand Slam Cup zur Familienkasse beisteuern würde. Nach knapp drei Stunden konnte sie erleichtert den Coach Mark Lewis umarmen – Michael Stich hatte dreimal im Tie-Break die Nerven bewahrt und Pete Sampras, den Weltranglistendritten, niedergerungen. 21 Asse waren für den Mann aus Florida einfach zuviel. Mit dem Weihnachtsgeld – auf einen Schlag erheischte Stich doppelt soviel wie im gesamten Restjahr 1992 – können sich die Stichs ihr neues Domizil bei Salzburg ein wenig wohnlich machen.

Stich selbst hat nach einer verkorksten Saison wieder „hundertprozentiges Selbstvertrauen bekommen“. Das klingt für 1993 vielversprechend. Viele hatte ihn, auf Rang 15 der Weltrangliste zurückgefallen, bereits als Einjahresfliege abgeschrieben.

Zumal der Schatten, den Boris Becker warf, wieder größer wurde. Nach Beckers ATP-Finalsieg in Frankfurt kümmerte sich niemand mehr um Michael Stich. Auch Sat1 konnte nicht zufrieden sein mit den Einschaltquoten, die der Elmshorner hervorrief. Doch das relative Desinteresse schuf Freiraum: „Ich hatte nichts zu verlieren“, sagt Stich heute. Vor dem Grand Slam Cup wußte er, daß er nach vierwöchigem harten Training gut in Form war. So unterliefen ihm im Spiel gegen Pete Sampras nur zehn leichte Fehler.

Auch sonst exponierte sich Stich nicht. Bei Interviews vermißte man seine intellektuelle Nachdenklichkeit. Er gab lediglich lapidare Antworten. Das „obszön hohe Preisgeld“ (McEnroe) sei nun mal Realität und jeder wäre blöd, der es nicht nähme. Michael Stich konzentrierte sich allein auf das Filzballspiel. „Jeder dachte doch, daß ich bereits in der ersten Runde gegen Edberg rausfliege.“ Sein Gesicht sagte: „Jetzt habe ich es euch allen gezeigt.“

Gerade bei seinem knappen Spiel gegen Stefan Edberg unterstützte das Publikum in der Olympiahalle Michael Stich, den Wahl-Münchner, derart begeistert, daß es dem Deutschen, der im Gegensatz zu Becker kein Mann des Volkes sein kann oder will und zu den Zuschauern keinen Draht findet, nach dem Matchball sogar Tränen der Rührung in die Augen trieb. „Ich schäme mich nicht, geweint zu haben, denn es war eines meiner wichtigsten Spiele, das ich jemals gewonnen habe“, stand er zu seinem unerwarteten Gefühlsausbruch und ordnete das Edberg- Spiel als „Beginn eines neuen Jahres“ ein. Was Ende Dezember nicht wirklich verwundert.

Zum Staunen brachte da vielmehr die Einlage von Michael Chang. Völlig unerwartet gewann das kleine Laufwunder gegen den Chefaufschläger Goran Ivanisević mit 6:7, 6:2, 3:6, 6:3. Schon im Vorjahr stand Chang im Finale, wo er allerdings gegen seinen Landsmann David Wheaton verlor. Gegen Ivanisević benutzte Chang seine berühmte Gummiwand-Zermürnungstechnik und brachte den Kroaten derart in Rage, daß dieser nach zwei Verwarnungen gar einen Strafpunkt für Unflätigkeit kassierte.Karl-Wilhelm Götte

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