: Israelischer Grenzsoldat entführt
Islamistische Hamas-Bewegung fordert Freilassung ihres Führers Scheich Yassin/ Westbank und Gaza-Streifen abgeriegelt/ Der Kampf in den besetzten Gebieten wird härter ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin
Einen Tag nach der Entführung eines israelischen Grenzpolizisten führte die Armee gestern in den besetzten Gebieten intensive Suchaktionen durch. Alle Übergänge von Israel in die Westbank und den Gaza-Streifen wurden abgeriegelt.
Der Grenzpolizist war in der Nacht zum Sonntag in der zentralisraelischen Stadt Lod von der militanten palästinensischen Gruppe „Izzadin Kassem“ verschleppt worden, die der islamistischen Hamas-Bewegung angegliedert ist. In einem Ultimatum drohten die Entführer, den Grenzpolizisten Nissim Toledano zu töten, falls Israel nicht den zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilten, gelähmten und akut erkrankten „geistigen Führer“ von Hamas, Scheich Ahmed Yassin (56) freiläßt. Doch das Ultimatum verstrich, ohne daß die israelische Regierung auf die Forderung einging.
In einem am Sonntag abend im israelischen Fernsehen ausgestrahlten Interview rief Scheich Yassin von seiner Gefängniszelle dazu auf, den von der „Izzadin Kassem“-Gruppe entführten Polizisten nicht zu töten. Statt dessen sollten Verhandlungen eingeleitet werden, um wenigsten gewisse Zugeständnisse zu erreichen. Gestern rief dann auch Hamas selbst von Jordanien aus zu Verhandlungen auf. In einer Erklärung bestand die Gruppe jedoch gleichzeitig auf einem Gefangenenaustausch, da Israel Yassin eine ärztliche Behandlung verweigere. Die Regierung in Jerusalem forderte zunächst einen Beweis dafür, daß der entführte Grenzsoldat noch am Leben ist. Polizeiminister Mosche Shahal rief gestern die Bevölkerung auf, sich nicht zu Racheaktionen gegen Araber hinreißen zu lassen.
Im Zuge der Such- und Vergeltungsoperationen der israelischen Besatzungsbehörden wurde die bereits seit einer Woche aufrechterhaltene totale Abriegelung des Gaza-Streifens auch auf die gesamte Westbank ausgedehnt.Hunderte von palästinensischen Arbeitern, die sich tagsüber mit Erlaubnis der Sicherheitsbehörden in Israel aufhielten, wurden aufgegriffen und in die besetzten Gebiete zurück verfrachtet.
Über mehrere Flüchtlingslagern, vor allem im Gaza-Streifen, und in der Stadt Hebron (Westbank) wurde erneut ein Ausgehverbot verhängt. Bei Zusammenstößen in Flüchtlingslagern im Gaza-Streifen waren am Wochenende mehrere Palästinenser getötet worden, weit über hundert erlitten Schußverletzungen.
Die israelischen Sicherheitskräfte in den besetzten Gebieten sind bereits seit Monatsbeginn in „vorbeugender Alarmbereitschaft“. Im Laufe dieses Monats gibt es eine Reihe von Jahrestagen und „historischen Daten“, wie zum Beispiel den Beginn des Palästinenseraufstandes vor fünf Jahren, die meistens zu einer Eskalation des Widerstands gegen die Besatzung führen. Gegenwärtig ist die Lage in den besetzten Gebieten gespannt und die Stimmung bedrückt. Dies auch angesichts der Tatsache, daß die Friedensgespräche in Washington auch ein Jahr nach der Madrider Nahostkonferenz noch zu keinen merklichen Erleichterungen der Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten geführt haben. Es herrscht große Arbeitslosigkeit, Not und Verzweiflung bei den verbitterten Bewohnern der Flüchtlingslager und in Dörfern und Städten der Westbank und des Gaza-Streifens.
Vor diesem Hintergrund hat die Zahl der Angriffe auf israelische Truppen und Militärfahrzeuge durch kleine, bewaffnete palästinensische Guerillagruppen, die den Staat Israel mit allen Mitteln liquidieren wollen, deutlich zugenommen. Die Anzahl der Opfer auf beiden Seiten wächst mit der ständig steigenden Zahl täglicher Zusammenstöße, bei denen immer härtere Mittel eingesetzt werden. So machen die israelischen Sicherheitskräfte neuerdings öfter von Raketen und Anti-Panzerwaffen Gebrauch, bevor sie Häuser stürmen, in denen sie Verstecke von Gesuchten vermuten. Dabei kommt es zu Protestreaktionen palästinensischer Jugendlicher, zu neuen blutigen Zusammenstößen und Verstößen gegen Ausgehverbote. Die Kämpfe flackern erneut auf, wenn die Jugendlichen in den Flüchtlingslagern und Vororten die Ausgangssperre nicht einhalten und militärische Fahrzeuge mit einem Steinregen empfangen. So schaukeln sich die Straßenkämpfe in einer Serie von Kettenreaktionen gegenseitig hoch, die Spirale der Gewalt dreht sich weiter und die Anzahl der Opfer nimmt ständig zu. Damit besteht zugleich die Gefahr, daß der von Hamas verschärft geführte bewaffnete Kampf den Einfluß der militant-islamistischen Bewegung weiter stärkt und der PLO und ihrer Verhandlungsdelegation in Washington die Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung zusehends entzieht.
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