: Ost-Industrie: im Kern nicht gesund
Die Bundesregierung will dem Verfall der Industrie in Ostdeutschland nicht länger tatenlos zusehen, sondern neue Industriestrukturen und passende Absatzmärkte planen ■ Von Donata Riedel
Berlin (taz) – Der Kern gilt im Deutschen als gesund, selbst wenn das Obst drumherum schon lange verfault ist. Verwesungsvokabular durchzog die Sonntagsreden über die marode Wirtschaft Ostdeutschlands – bis Helmut Kohl vor zwei Wochen den „industriellen Kern“ entdeckte und zwecks Erhalt unter seinen persönlichen Schutz stellte. Für eine „aktive Regional- und Strukturpolitik in den neuen Bundesländern“ ließ sich inzwischen selbst der marktliberale Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) gewinnen, der sich gestern in einer entsprechend betitelten Verlautbarung für „fallbezogene Einzelsanierungslösungen“ einsetzte.
Dem gewundenen Stil des Möllemann-Papiers läßt sich entnehmen, wie schwer dem Minister der Schwenk zur neuartigen Planwirtschaft gefallen sein muß. Die Treuhand werde gewährleisten, daß „der für die Sanierung erforderliche Personalbestand auch in Zeiten vorübergehender konjunktureller Beschäftigungseinbrüche gesichert ist“, sagte Möllemann in Bonn. Einen „Entlassungsstopp“, wie ihn der IG-Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler aus einem gemeinsamen Wochenendgespräch bei Kohl herausinterpretierte, könne es aber nicht geben, so Möllemann. Eine Sanierung wäre dann in den meisten Fällen kaum möglich, und private Investoren würden abgeschreckt.
Die Abschreckung des Privatkapitals kann allerdings kaum größer sein als heute. Die 3.000 Noch- Staatsbetriebe Ost produzieren fast alle hohe Verluste. Besonders die Lage der 370 mittleren und größeren Industrieunternehmen ist laut Möllemann keinesfalls kerngesund, sondern „besorgniserregend“ verfallend. Die Verluste dieser Betriebe betragen 1992 durchschnittlich 20 bis 30 Prozent des Umsatzes.
Kohl, Möllemann, Steinkühler und Finanzminister Theo Waigel (CSU) haben offenbar am Wochenende eine gemeinsame Linie gefunden, nach der die Sanierung nicht am fehlenden Geld scheitern soll. Wieviel der industrielle Kern denn kosten darf, war allerdings gestern nicht in Erfahrung zu bringen.
1990 und 1991 hat die Treuhandanstalt zwar 120 Milliarden Mark in ihre Firmen gesteckt, zumeist aber in die Übernahme von Altschulden und in Sozialpläne. Während Westfirmen im zweiten Quartal 1992 pro Beschäftigtem 5.500 Mark investierten, begnügte sich die Treuhandanstalt mit 1.400 Mark. Entsprechend vergrößerte sich die Kluft zwischen dem Modernisierungsstand West zu Ost noch weiter.
Anders als bisher will die Bundesregierung nun nicht länger dem Markt vertrauen, dessen Kräfte genauso funktioniert haben, wie WirtschaftsforscherInnen zur Währungsunion vorausgesagt hatten. Die Westindustrie, deren Kapazitäten heute nur zu 83 Prozent ausgelastet sind, kann den Osten Deutschlands mühelos mitversorgen. Von den 3,6 Millionen Industriebeschäftigten haben daher bis heute bereits 2,85 Millionen ihren Arbeitsplatz verloren und kreisen, sofern sie nicht offziell arbeitslos sind, in diversen ABM- und Weiterbildungs-Warteschleifen. Weil der Markt vermutlich auch die letzten 750.000 neubundesländischen Industriearbeitsplätze abschaffen würde, setzt Kohl nunmehr auf den neuen Plan.
Nach den Angaben von Möllemann soll die Sanierung generell nach dem sächsischen Modell „Atlas“ verlaufen. Die Treuhand-Manager und die entsprechende Landesregierung sollen nach Anhörung von Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsam entscheiden, welche Unternehmen mit regionaler Bedeutung saniert würden. Organisatorisch soll die Treuhand Holdinggesellschaften in der Form der KG gründen, von denen zunächst sechs geplant sind. Damit die Produkte der staatlich finanzierten Konzerne einen Markt finden, sollen die Ministerien künftig im Osten einkaufen.
Kohls fünf weise Wirtschaftsberater aus dem Sachverständigenrat graust es angesichts des neuen Struktur-Aktivismus'. Ihr Vorsitzender Herbert Hax bezeichnete die Bestandsgarantie als „völlig verfehlt“. Sein Kollege Horst Siebert ergänzte, die Politik könne nicht definieren, welche Unternehmen künftig florierten. „Dies ist das Informationsproblem, an dem schon die Planwirtschaft scheiterte“, gab er zu bedenken. Manch ein östlicher Industriekern hat wohl tatsächlich Ähnlichkeit mit dem des Obstes: man beißt sich die Zähne aus – oder wirft ihn weg. Bis daraus neues Leben wächst, muß er wohl erst zerfallen sein.
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