Ein neuer Regierungschef für Rußland

■ Viktor Tschernomyrdin verfügt über gute Kontakte zur Industrielobby/ Nominierung durch Jelzin nach Wahlschlappe für Gaidar/ Kompliziertes Verfahren

Moskau (taz) – Rußland hat einen neuen Ministerpräsidenten: Viktor Tschernomyrdin. Bisher gehörte er dem Kabinett von Präsident Boris Jelzins als Vizepremier an, zuständig für den Energiesektor. Ein Kompromißkandidat, über den sich bisher wenig sagen läßt. 1938 in Orenburg geboren, ist er ein Politiker der alten Schule und Spezialist für Gas- und Ölforderung, der über gute Verbindungen zur Industrie verfügt. Von 1978 bis 1982 arbeitete er im Apparat des Zentralkomitees der KPdSU. Der UdSSR diente er schon einmal als Energieminister. Nach dem letzten Volksdeputiertenkongreß im Frühjahr drückte die einflußreiche Industriellenlobby im Parlament den Vizepremier in die Regierung.

Ein ausgeklügeltes Wahlprozedere, das sich Zahlengelehrte zwischen Euphrat und Tigris ausgedacht haben könnten, lag der Endausscheidung um den Posten des Ministerpräsidenten im russischen Volksdeputiertenkongreß zugrunde. Auf das Zahlenspiel hatten sich Jelzin und sein Gegenspieler, Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow, am Sonnabend in einem Kompromißpapier geeinigt, das dem Streit zwischen Exekutive und Legislative einen vorläufigen Frieden bescheren sollte.

Die Fraktionen hatten siebzehn Kandidaten vorgeschlagen. Jelzin nahm sich das Recht, aus ihnen fünf potentielle Regierungschefs auszuwählen. Unter ihnen waren Jurij Skokow, der Sekretär des Sicherheitsrates beim Präsidenten, ein Ex-Manager des militärisch-industriellen Komplexes, Jelzins Vizepremier Wladimir Schumeiko, ebenfalls ein Mann der Praxis, der im Sommer als Wunschkandidat der Industriellenlobby ins Kabinett gedrängt wurde. Er erwies sich entgegen allen Vermutungen als treuer Parteigänger des Gaidarschen Reformkurses. Außerdem ging der Direktor der Moskauer VAZ-Automobilfabrik, Kadanikow, ins Rennen, der sich allerdings als ein auf Regierungsebene „unerfahrener“ Mann einführte und sich gleich bedingungslos hinter Gaidar und Jelzin stellte. Blieb noch der relativ unbekannte Vizepremier Viktor Tschernomyrdin.

Skokow schnitt am besten ab, Zweiter wurde Tschernomyrdin mit 621 Stimmen. Gaidar erhielt genau 400 und landete abgeschlagen auf dem dritten Platz. Genug, um von Jelzin für den Endlauf aufgestellt zu werden. Denn die Abmachung lautete, Jelzin könne aus den drei Kandidaten mit den höchsten Stimmen seinen Mann aussuchen. Skokow wollte seinen Platz im Sicherheitsrat nicht aufgeben, und Gaidar hatte vorher schon seine Bereitschaft geäußert, einem Kompromiß zuzustimmen. Offenkundig hat sich Jelzin im letzten Moment von Gaidar umstimmen lassen und Tschernomyrdin akzeptiert. Das deutet darauf hin, daß Gaidar einen Fortgang der Reformen auch mit dem neuen Ministerpräsidenten für möglich hält. Zumindest erhielt der Kongreß formal seinen Willen. Er bestätigte den neuen Premier umgehend mit 721 Stimmen. Ohnehin wird Jegor Gaidar an anderer Stelle als Supervisor der Reformen weiterwirken. Klaus-Helge Donath