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"Anarchie"-betr.: "US-Truppen nach Somalia" ("...in einer Welt, in der Anarchie herrscht...") von Bettina Gaus, taz vom 5.12.92

Betr.: „US-Truppen nach Somalia“ („...in einer Welt, in der Anarchie herrscht...“) von Bettina Gaus, taz vom 5.12. 92

[...] Liebe Anarchisten: Guckt nach Somalia, guckt auf die vor Hunger sterbenden Kinder, guckt auf die verblutenden Opfer der Straßenschlachten. Das ist Anarchie pur! Die Macht hat der, der Waffen besitzt und von ihr Gebrauch macht; schwache, arme, kranke Menschen oder Minderheiten jeder Art werden „aussortiert“. Anarchie ist für mich die perverseste Staatsform, die es gibt, denn sie geht zu Lasten der Kranken, Schwachen oder des Fremden. Es ist die Macht des Stärkeren.

Es ist mir egal, ob die Amis mit ihrem Einmarsch in Somalia wieder einmal Weltpolizei spielen wollen oder ob der Noch-Präsident Bush noch einmal seine Macht demonstrieren will oder der Welt zeigen will, wen sie verliert. Und es ist auch den hungernden oder krepierenden Somalis egal. Sie wollen was zu essen haben. Und die Amis wollten ihnen was geben, spät, aber immerhin noch als erster Staat der Welt. Und sie haben auch das meiste an Lebensmittelhilfen bereitgestellt. Das allein ist schon einmal lobenswert, obwohl natürlich die ganze Welt – inklusive der Amis – bis zu diesem Zeitpunkt mehr als geschlafen hatte. Der Grund, weshalb die Amis dies taten und tun, ist den Somalis und auch mir in erster Linie egal. Wichtig ist, daß die perverse Handhabung mit Menschenleben, die in Somalia an der Tagesordnung war, ein Ende hat. Und dieses Ziel scheint mit der Intervention erst einmal erreicht zu sein. [...] Dirk Beeck, Lüdinghausen

Anarchie, aus dem Griechischen „an Archia“=ohne Gesetz. Ohne Gesetz im anarchistischen Sinne bedeutet, es gibt niemanden, der einen durch Waffengewalt, Gesetzgebung im Sinne der Mächtigen oder durch eine höhere Stellung in der sogenannten Hierarchie zu irgendetwas zwingen kann. Alles, was man tut, macht man aus freiem Antrieb heraus. Gesetze sind aus dem Grunde überflüssig geworden, weil die Gesellschaft die Notwendigkeit der gegenseitigen Hilfe als einzigen Weg der friedlichen Koexistenz verinnerlicht hat. Eine utopische Vorstellung also.

Das Land Somalia erfüllt keinen dieser exemplarischen Punkte, die erfüllt sein müssen, um überhaupt von Anarchie sprechen zu können. Vielmehr fragen wir uns, ob es natürlich ist, daß ein Land, das einer Hungersnot ins Auge blickt, mehr Waffen als Nahrungsmittel zur Verfügung hat, ob in Somalia solange ein Bürgerkrieg ohne ausländische Unterstützung hätte stattfinden können.

Wir möchten Sie daher bitten, dieses Wort, das durch seine vielzähligen, irreführenden Falschdefinitionen schon immer ein Reizwort, gleichbedeutend mit Chaos, Mord und Totschlag war, aus diesem Zusammenhang zurückzuziehen und sich zu informieren, was dieses Wort wirklich bedeutet, bevor sie es zur Beschreibung der Zustände in einem geschürten Krisenherd mißbrauchen. Timo Strobel, Peter Schmidt,

Köln

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