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Aufschwung für den Untergrund

■ Die Krise lebt: In Istanbul haben illegale Geschäfte aller Art Hochkonjunktur

Japanische Touristen schlurfen durch die Damast-Salons des „Pera Palas Oteli“ und fotografieren wie üblich besessen. Die Kristalleuchter, die alten Samoware, die Perserteppiche, das Porzellan. Und vor allem die Messingtafeln über den Zimmereingängen mit den Namen berühmter Besucher des berühmtesten Hotels in Istanbul: von Mustafa Kemal Atatürk, dem legendären Gründer der türkischen Republik, bis zum britischen König Eduard dem Achten, von Mata Hari bis zu Josephine Baker, von Schah Reza Pahlevi bis zu Agatha Christie, die im Appartement 441 ihren Welt-Hit „Mord im Orient-Express“ schrieb. Das Pera ist eine obligatorische Etappe in dem Istanbul, wie es die Werbung verheißt: Magie des Orients, Belle Époque.

Doch die Stadt am Bosporus ist längst nicht mehr die der byzantinischen Herrscher und der ottomanischen Sultane. Istanbul heute: korrodiert von der Lufverschmutzung (die Schädlichkeitswerte übertreffen Tag für Tag die zugelassenen Höchstwerte um das Zehnfache), durch die Bevölkerungsexplosion aus allen Nähten platzend, geschlagen von Arbeitslosigkeit (offiziell 20 Prozent) und Armut (die Hälfte der Armenviertel ist ohne Wasser), unlebbar durch den Höllenlärm. Die glorreiche Vergangenheit scheint unwiederbringlich verloren, die Gegensätze einer chaotischen Entwicklung werden immer sichtbarer. Futuristische Brücken neben den Slums der Peripherien, Neureiche am Steuer teurer BMWs, islamische Bärte und Rockmusik, stark religiös geprägtes Leben in einem laizistischen Staat mit unzähligen Bordellen und Kondom-Ständen an den Straßen.

Überall ein unglaubliches Menschengemenge: Kurden, Armenier, Albaner, Syrer, Juden, Anatolier, griechische Immigranten, Bulgaren, Rumänen, Mazedonier, Montenegriner. Die Stadt sucht seine Identität. An der Grenze zweier Kontinente gelegen, weiß Istanbul nicht, ob es sich als letzte europäische Stadt oder als Pfad aus Asien heraus ansehen soll. Wie ja die gesamte Türkei diesbezüglich recht unsicher ist: Sie verlangt den Anschluß an die EG, lanciert aber gleichzeitig eine Wirtschaftsgemeinschaft der Schwarzmeerstaaten und möchte zum Zentrum der Balkanpolitik werden.

Gleichzeitig jedoch suchen andere Menschen die „Krise“ der Stadt auf ihre Weise zu lösen– oder zumindest von ihr zu profitieren. Der Zerfall der Sowjetunion hat Untergrundtätigkeiten und illegalem Handel neuen Aufschwung verschafft, die einstige Spionenherrlichkeit und die neue Schieber- Mentalität haben ein inniges Amalgam gebildet. Schmuggel und Dokumentenfälschung, Rauschgifthandel und Waffendeals in großem Stil kennzeichnen die Polizeiberichte, der jugoslawische Bürgerkrieg ebenso wie die ethnischen Konflikte in Georgien und Armenien verheißen goldene Nasen, die Kurden verlangen ebenso nach Schießzeug wie Iraks Saddam Hussein seine Fühler danach ausstreckt.

Die Bar des Pera-Palas-Hotels scheint da zu voll von indiskreten Ohren: einschlägige Geschäfte werden lieber zwischen den gedämpften Wänden der Lobby des Hilton oder Sheraton abgewickelt. Wenige Produkte, die hier verhandelt werden, kommen aus dem Land selbst. „Die Türkei“, erklärt die Leitung der Antidrogenpolizei, „ist für alle illegalen Geschäfte vor allem Durchgangsland.“ Trübe Geschäfte stehen so zur Bewältigung der Krise neben Tourismus und der Suche nach einer neuen Großmachtstellung: Welcher dieser Aspekte auf mittlere Sicht die neue Identität Istanbuls prägen wird, ist noch völlig offen. Giovanni Porzio, Istanbul

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