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„Nur das gemeine Volk steht im Stau“

Die Sonderwirtschaftszone Zhuhai ist der „kleine Tiger“ Chinas/ Die Wachstumsrate liegt bei 18 Prozent/ Bauboom und Autoklau: Neue Straßen sollen den Verkehr wieder fließen lassen  ■ Aus Zhuhai Jutta Lietsch

„Unser Vorbild ist Singapur, so schön und so entwickelt soll unsere Region werden“, sagt der Vizebürgermeister der südchinesischen Sonderwirtschaftszone Zhuhai, Lin Baowan. Ihm schwebt eine Industrie- und Dienstleistungszone vor, „die auch für Touristen attraktiv ist“.

Lin Baowan und sein Kollege von der Abteilung für auswärtige Beziehungen haben über eine Stunde auf uns gewartet – und sie akzeptieren die Entschuldigung, wir seien im Stau steckengeblieben, mit verständnisvoller Freundlichkeit. Denn daß die rund einhundertsechzig Kilometer lange Fahrt von Kanton durch das Perlflußdelta kaum unter fünf Stunden zu bewältigen ist, ist zugleich ein Zeichen dafür, daß die Wirtschaft hier boomt.

Ein dichter und abgasstinkender Zug von Lastwagen, Containertrucks, Bussen, Personenwagen und Mopeds zieht sich durch die Städte und Dörfer. Nach kurzer Fahrt aber kommt er immer wieder zum Stehen – wenn die Straße sich durch enge Dörfer zwängt, Ampeln oder Zahlstellen den Verkehr aufhalten.

Angesichts der leeren öffentlichen Kassen haben die lokalen Behörden das Täterprinzip entdeckt: Wer eine der neuen Brücken über die zahlreichen Perlflußarme überqueren will, muß zuvor an den Mautstellen bezahlen.

Zhuhai, das an die (bis 1999) portugiesische Kolonie Macao angrenzt, ist eine der vier „Wirtschaftssonderzonen“, die Anfang der achtziger Jahre in China eingerichtet wurden. Kapital- und Technologieimport, Joint-ventures, exportorientierte Produktion, günstige Steuerbedingungen für ausländische Investoren und ein gewissermaßen freier Arbeitsmarkt waren die neuen Voraussetzungen, unter denen mit der Öffnung zum Weltmarkt experimentiert werden sollte. „Noch vor zehn Jahren war das hier ein Fischerdorf mit ein paar tausend Einwohnern. Es gab keine asphaltierte Straße und nur eine Ampel“, sagt Lin. Jetzt leben in der Region mehr als eine halbe Million Menschen, vier Millionen sollen es einmal werden. „1980 lag der Wert aller in Industrie und Landwirtschaft produzierten Güter bei dreihundert Millionen Yuan.“ (Vier Yuan sind rund eine Mark.) In diesem Jahr werden es fünfzehn Milliarden Yuan sein, meint er.

Mit Elektronik-, Textil-, Metall-, plastikverarbeitender Industrie und anderen Betrieben sind auch Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern nach Zhuhai gekommen, angelockt von höheren Löhnen und besserem Lebensstandard. Und angelockt von Firmenwerbern, die in der Provinz Guangdong und im ganzen Land nach qualifizierten Leuten suchen und dafür manchmal beträchtliche Ablösesummen an die ehemaligen Arbeitgeber zahlen. In einigen Fällen kaufen sich die Arbeitskräfte selbst von ihren ehemaligen Betrieben frei.

Im Zentrum Zhuhais reißen Bagger die letzten Häuschen des alten Dorfkerns ab. Sie weichen Supermärkten, Bars, Restaurants und Hotels.

Urbane Geschäftsfrauen mit mobilen Telefonen in der Hand gehören ebenso zum Straßenbild wie Bauern, die erst vor kurzem vom Dorf gekommen sind. An einer Straßenecke sitzen junge Männer und spielen Karten. Dabei halten sie stets auch nach nach möglichen Kunden Ausschau. Neben ihnen auf dem Boden, auf einem Stück Packpapier säuberlich ausgebreitet, liegen Aktien zum Verkauf. „Garantiert echt!“ beteuern sie. Auch wenn es Börsen nur in Shanghai und Shenzhen gibt: in Zhuhai liegen die Wertpapiere auf der Straße.

„Shenzhen, die bekannteste der Wirtschaftssonderzonen, die im Hongkonger Hinterland liegt, ist zwar schneller gewachsen, aber Zhuhai sei eben schöner“, preist Vizebürgermeister Lin seine Region an.

Er verweist auf die der Küste vorgelagerten 145 Inseln und die großzügige Stadtplanung in der 1.600 Quadratkilometer Landfläche umfassenden Zone. Vor allen Dingen wird gebaut: Containerhafen, Flughafen, Fabrikgebäude, Bürohochhäuser, Bungalowsiedlungen, Hotels. Singapur hin, Singapur her – zwar künden die ersten Parkanlagen und die breiten Palmen- und Bauhinia-gesäumten Straßen von dem Vorbild, doch erst einmal wird eingeebnet: kaum ein Hügel, an dem nicht ein Bulldozer nagt, um Platz für neues und planes Bauland zu schaffen.

„Wir haben so viele Hügel“, sagt ein Journalist des Zhuhaier Lokalblattes. „Und im übrigen gibt es eine Obergrenze: Erhebungen, die höher als ungefähr 85 Meter sind, dürfen nicht abgetragen werden. Felsen auch nicht.“ Umweltschutz? Ja, den gibt es in Zhuhai, hat Lin Baowan gesagt. Alle Firmen und Betriebe müßten festgelegten Umweltkriterien entsprechen, sonst erhielten sie keine Baugenehmigung. Da habe es noch nie Probleme gegeben. Eine Kontrolle nach Produktionsbeginn gebe es allerdings nicht.

Nach dem 14. Parteitag der KP Chinas im Oktober dieses Jahres, der den „Sozialismus chinesischen Typs“ durch die Formel „sozialistische Marktwirtschaft“ näher bestimmte, ist eine Fahrt durch die wirtschaftlich erfolgreicheren Regionen Chinas zugleich eine Lektion in geradezu erstaunlichem Optimismus.

In Ost- und in Südostasien liegt die wirtschaftliche Entwicklungsregion der Zukunft, sagen die chinesischen Gesprächspartner in Betrieben und Behörden, und Südchina ist der Mittelpunkt. Und sie schauen verhalten mitleidig, wenn sie auf die von Stagnation und Rezession geplagten Wirtschaften Europas und Nordamerikas zu sprechen kommen.

Die immer wieder zitierte Südchina-Reise des chinesischen Altpolitikers Deng Xiaoping Anfang des Jahres und der 14. Parteitag haben nicht nur zu einer Beschleunigung des Reformprozesses beigetragen, heißt es in Guangdong, sondern zu einer „ideologischen Revolution“.

Ein anderer Geprächspartner drückt die Genugtuung darüber, daß die Leute hier im Süden schon lange die Nase vorn hatten, so aus: „Wir hatten die Segel schon gesetzt. Dengs Reise brachte den Wind dazu. Die anderen Regionen des Landes machen sich jetzt startklar.“

Mit einem jährlichen Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 18 Prozent liegt das Perlflußdelta an der Spitze der Wachstumsregionen der Welt, in der Provinz Guangdong sind es 12,4 Prozent. Und mit Hilfe ausländischer Investitionen – vor allem aus Hongkong, Macao und Taiwan – werde diese Region in zehn Jahren den heutigen Stand der asiatischen „kleinen Tiger“ erreichen, meint Zeng. Eine Einschätzung übrigens, die auch der renommierte britische Economist in seinem China-Survey Ende November teilte.

„Come on! Respectable friends all over the world, you are warmly welcome to visit Zhuhai“ verheißt der Stadtplan geradezu unwiderstehlich. Wo noch vor wenigen Jahren Reis, Zuckerrohr oder Bananen angebaut wurden, wird jetzt der Boden für Fabrik- und Montagehallen oder Einkaufszentren einplaniert. Beiderseits der Straße nach Zhuhai künden große Werbetafeln von geplanten und bereits begonnenen Bauvorhaben. „Beverly Gardens“ oder „Fortune Villas“ zum Beispiel heißen die Wohnkomplexe mit Hochhäusern, Supermärkten und Bungalows im südchinesisch-mediterran-portugiesischen Stil, die hier entstehen sollen.

„Zweitwohnungen für Leute aus Macao oder Hongkong oder für zurückgekehrte AuslandschinesenInnen“, sagt der Kantonese Zhang, der für die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua photographiert und ausländische KollegInnen begleitet, „oder reiche Bauern“.

Auch wenn der britische Gouverneur von Hongkong ihnen im Augenblick „Kopfschmerzen“ bereite – so ein milde formulierter Hinweis auf den erheblichen Zorn, der die chinesische Parteispitze schüttelt angesichts der Demokratisierungsvorstellungen Chris Pattons für die Kolonie, die 1997 an China zurückfällt –, ist das Zusammenwachsen Guangdongs mit Hongkong und Macao nicht nur durch Wirtschaftsstatistiken zu belegen, sondern selbst auf der Straße deutlich zu sehen.

Und dies nicht nur an der beträchtlichen Zahl von Limousinen. Viele haben das Lenkrad auf der rechten Seite, was darauf hinweist, daß sie aus der britischen Kolonie herübergekommen sind. Ihren früheren BesitzerInnen kamen die Wagen nicht immer auf legalem Wege abhanden: In den vergangenen Jahren hatte der organisierte Autoklau und -schmuggel aus Hongkong derartige Ausmaße angenommen, daß die Kolonialverwaltung die Guangdonger Provinzregierung wiederholt darum bat, doch ein schärferes Auge auf die so importierten Gefährte zu werfen.

Was nicht ganz unproblematisch war, denn nicht wenige der beliebten Toyotas oder Nissans hatten sich in Dienstwagen lokaler Partei- und Regierungsbeamter verwandelt. Offiziell sei es nun nicht mehr möglich, ein Auto mit Rechtssteuerung registrieren zu lassen, heißt es in Kanton, „natürlich gibt es auch Ausnahmen“.

Die Triaden, wie die vor allem im Süden Chinas und unter Übersee-chinesischen Gemeinden operierenden chinesischen Mafia-Organisationen genannt werden, sind nicht der einzige Weg, den Wunsch nach einem repräsentativen Wagen zu erfüllen. Zu den inoffiziellen Tätigkeiten ausländischer Geschäftsleute in China gehört es schon mal, lokalen Funktionären zum ersehnten Mercedes zu verhelfen, wie ein Hongkonger Manager berichtet. Dies ist zuweilen Voraussetzung für wohlwollendes Verhalten seitens der Behörden bei der Lösung bürokratischer Probleme.

„Im Stau steht nur das gemeine Volk“, war es aus einem unserer Begleiter hervorgebrochen, der sichtlich genervt war, als klar wurde, daß wir keinesfalls mehr pünktlich beim Vizebürgermeister ankommen würden. „Die Chefs in der Kreis-, Distrikt-, Stadt-, und Provinzregierung, die lassen sich einfach Autoschilder mit Armeekennzeichen ans Auto machen. Dann können sie überall fahren. Auch auf der linken Spur. Die Polizei wagt dann nicht, sie anzuhalten oder eine Strafe zu verhängen.“ Und wendet sich zu mir: „Das müssen Sie aufschreiben! Das muß kritisiert werden.“

Noch gibt es keine Schienenverbindung von Kanton nach Zhuhai, aber bis Ende 1992 soll eine sechsspurige Schnellstraße fertiggestellt sein, und in den kommenden Jahren wird eine Autobahn gebaut. Von Macao aber ist es ein Katzensprung, und von Hongkong braucht es per Schnellboot nur eine Stunde. Für das Vergnügen der umworbenen Touristen aus den Kolonien oder von anderswo, die sich im Kasino oder beim Pferderennen langweilen, wird Zhuhai einen ganz eigenen Reiz bieten, wenn es soweit ist: „Wir bauen eine Autorennbahn“, sagt Vizebürgermeister Lin.

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