■ Gerichte hebeln die herrschenden Kasten aus – in Politik, Wirtschaft, Mafia – mit oft zweifelhaften Methoden
: Pensionierung auf italienisch

Seit Jahrzehnten herrscht in Italien eine unverwüstliche Riege alter Männer – von den Andreottis in der Politik über die Fellinis in der Kultur und die Agnellis in der Wirtschaft bis zu den Liggios und Riinas in der Mafia. Die Gerontokraten in der Regierung und in den Kulturbeiräten ebenso wie im Management und in der Cupola der Cosa Nostra blockierten bislang noch jede Modernisierung des Landes. Und sie saugen den Staat von allen Seiten aus. Wie die Mafia durch öffentliche Aufträge und staatliche Hilfsgelder steinreich wurde, so luden die Industriellen alles Mißmanagement auf die öffentliche Hand ab. Wenn die Sache ins Illegale abrutschte, waren da immer Altersgenossen in Justiz und Politik, die es gerne richteten. Und wie im Lande schon seit Jahrzehnten nahezu jeder Film von vornherein staatliche Zuschüsse einforderte, so finanzierten sich Politiker und Parteien ganz selbstverständlich über Schmiergelder, die aber nicht die Nehmer öffentlicher Aufträge, sondern wiederum der Steuerzahler berappte – die Bestechungssumme wurde einfach der Auftragssumme zugeschlagen.

Nun aber scheint es Ernst zu werden mit der Pensionierung der Unverwüstlichen: Die Christdemokraten haben ihre Andreottis und Forlanis zugunsten des 62jährigen Mino Martinazzoli in Rente geschickt, die Sozialisten werden ihren seit 17 Jahren ununterbrochen diktatorisch herrschenden Bettino Craxi jeden Moment aufs Altenteil setzen. Die ehemaligen Kommunisten, nunmehr Demokratische Partei der Linken, haben diesen Schritt schon seit Ende der 80er Jahre hinter sich, auch kleinere Parteien wie die Republikanische und die Sozialdemokratische haben ihre Oldtimer schon abgestoßen.

Die Fürsten des Palazzo werden in Rente geschickt

In anderen Ländern geschieht derlei normalerweise im Zuge einer Auswechslung der Regierung: Während die Opposition in die Administration einrückt, „regeneriert“ sich die abgehalfterte Regierungspartei in der Opposition. Italien, das seit Kriegsende stets Regierungen mit der Democrazia Cristiana ertragen hat (40 der 46 Jahre seit Einführung der Republik stellte sie auch den Ministerpräsidenten), hat einen wirklichen Machtwechsel jedoch nie erlebt, und so alterten die einst jungen Regierungsmänner, die Staatssekretäre und Minister allmählich in immer höhere Ämter oder immer öftere Bestallungen hinein – der derzeitige Außenminister Emilio Colombo war schon mehr als zwei Dutzend mal Minister, Andreotti siebenmal Ministerpräsident, sein Kollege Fanfani sechsmal, Forlani dreimal. Und ebenso blieben die mit den Ministern alternden Kulturschaffenden, die Manager und auch die Dunkelmänner und Mafiosi immer dieselben, man kannte sich ja, ging den „kurzen Dienstweg“, das war bequemer, als sich an neue Gesichter zu gewöhnen. Der „Palazzo“, wie Pier Paolo Pasolini dieses Kartell nicht nur der Politiker, sondern aller Entscheidungsträger nannte, war kompakt und in sich geschlossen.

Noch im Frühjahr 1992 schien eine Zwangspensionierung der Greisenriegen kaum möglich. Daß sie nun doch eingesetzt hat, ist jedoch nicht einer politischen oder kulturellen Auseinandersetzung zu danken, sondern ausschließlich den Strafverfolgern und den Gerichten. Niemand hätte die Andreottis und Craxis abschieben können, wären da nicht die gigantischen Skandale aufgeflogen, die Hunderte von Managern und Lokalpolitikern in den Knast und Verfahren gegen mittlerweile mehr als zwei Dutzend Parlamentarier und sogar Minister bewirkt haben. Die erdrutschartigen Wählerverschiebungen, die sich schon bei der Parlamentswahl vom April zeigten und vergangenes Wochenende mit den Kommunal-Teilwahlen neue Höhepunkte für die sezessionistische Liga im Norden und die Antikorruptionspartei „La Rete“ im Süden erreichten, sind nicht die Ursache für die Umbesetzungen, sondern lediglich die Folge der Massen-Anklagen wegen Korruption, die mittlerweile mit der Ermittlung gegen Sozialistenführer Bettino Craxi auch den innersten Kern der bisherigen Machtinhaber erreicht haben.

Der Exorzismus hat etwas Pharisäerhaftes an sich

Mit den Alt-Politikern purzeln natürlich auch viele Ansprechpartner im Management und in den Kulturzirkeln; sogar Fiat-Patriarch Gianni Agnelli, von dem mehrere Firmen in Bestechungsskandale verwickelt sind, will nun, mit 72, aufs Altenteil. Selbst wo Dunkelmänner im Spiel waren oder sind, stellt sich der Wechsel ein: Die Mafia entledigt sich selbst – durch Mord oder gezielte Hinweise bei der Polizei – ihrer Ansprechpartner in der Politik ebenso wie ihrer alten Capi.

Doch dieses System der „Pensionierung auf italienisch“ kann sehr schnell und unvermittelt eine ganze Reihe unguter Folgen zeitigen. Da ist erstens die Tatsache, daß viele von den nun laufenden Verfahren Zustände angreifen, die doch jeder Italiener seit Jahren, ja Jahrzehnten kennt: die Ausbeutung des Staates durch seine Diener, die Klientelwirtschaft, die Versorgung der eigenen Familienmitglieder, das selbstverständliche Balancieren am Rand der Legalität oder jenseits davon. All das ist nur vom Ausland her als Entartung des politischen Systems anzusehen – tatsächlich ist es Teil der gesellschaftlichen Bezüge, und die meisten Italiener sind sich zwar der Illegalität dieser Verhältnisse, nicht aber ihrer gesellschaftlichen Schädlichkeit bewußt. Wer in Italien eine Stelle will, geht nicht zum Arbeitsamt, sondern zu einem der Notablen oder zu einem Verwandten in einem Amt; wer einen Bauauftrag akquirieren möchte, weiß, daß er keine Chance hat, wenn er nicht die „richtigen“ Leute gnädig stimmt. Umgekehrt wird der Politiker ohne eine treue Klientel oder reiche Gönner keine Karriere machen – die italienische Literatur ist voll von Veröffentlichungen darüber, schöngeistige wie soziologische und politologische. Die Tendenz, hier nur eine Art Exorzismus zu betreiben, indem man nun plötzlich ein paar hundert Politiker und Manager einsperrt, hat etwas sehr Pharisäerhaftes an sich.

Zweitens nimmt die Tendenz zu, alle Übel der Vergangenheit nun auf die Häupter der sozusagen zum Abschuß Freigegebenen zu häufen und jede Differenzierung fallenzulassen. Vor allem werden aller möglichen Sachen gerade jene bezichtigt, derer man nicht habhaft wird, weil sie untergetaucht sind – wie eine Reihe schnell abgehauener Parteigeldsammler oder auch der angebliche „Weltherrscher der Mafia“, Toto Riina, der nun für alles und jedes verantwortlich gemacht wird, was sich in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren in der Unterwelt zugetragen hat. Derlei Ober-Bösewichte wurden in Italien immer wieder aufgebaut. Doch vor Gericht zeigte sich dann oft, daß sie nur Sündenbock waren. Solange der „Propaganda 2“-Logenmeister Licio Gelli flüchtig war, galt er als Drahtzieher für alle politischen Manöver und Auftraggeber böser Attentate. Als man ihn hatte, blieb nur noch ein relativ kleiner aufgeblähter Geschäftemacher und Angeber übrig, der sicher viel Kriminelles getan, aber niemals das Zeug zum „großen Alten“ aufbrachte. Dem als „Bombenleger Nummer1“ ausgeschriebenen Rechtsextremisten Stefano delle Chiaie hatte man nahezu alle Sprengstoffattentate seit 1969 zur Last gelegt. Als man ihn vor Gericht bekam, mußte man ihn wieder laufen lassen, weil fast nichts zu beweisen war.

Der dritte und wohl beunruhigendste Punkt aber ist, daß gerade jene, die nun als Nachrücker so viel auf „Sauberkeit“ und „Transparenz“ schwören, selbst nicht unbedingt dafür bürgen. So erweist sich der als „Saubermann Nr.1“ gelobte Leiter einer quer durch die Parteien gehenden Initiative Popolari per la riforma, Mario Segni, eher als unentschlossener Wackelpudding, der immer wieder umfällt. Auf der anderen Seite stehen Typen im Startloch wie der Sozialist Claudio Martelli, der seinen einstigen Mentor Craxi beharrlich abgesägt hat. Es genügt, sich ihn, den „Hoffnungsträger“ der derzeitigen Linken, anzusehen, um hinreichendes Grauen zu bekommen.

Martelli – ein Newcomer im Gewande des Moralapostels

Seit 1987, damals PSI-Vize, hetzte Martelli so lange gegen die erfolgreiche Antimafia-Sonderkommission („Pool“), bis diese aufgelöst wurde: Bei Wahlen kassierte er dann, Spitzenkandidat der Sozialisten in Sizilien, kräftig mafiose Stimmen, wie Cosa-Nostra-Aussteiger beschwören. Daß er später, Justizminister geworden, den „Pool“-Chef Falcone (der im Mai 1992 ermordet wurde) in sein Ressort holte, suchte er als „Antimafiakampf“ zu verkaufen, in Wirklichkeit hat er Palermo seines führenden Ermittlers beraubt. Auch das 1989 in Kraft getretene Anti- Immigrationsgesetz mit seinen rigiden Ausschlußbestimmungen – spektakulärste Anwendung: die Einkesselung und Abschiebung zehntausender flüchtiger Albaner – entstammt Martellis Gehirn. Zeitweise spielte er gar mit der Idee, das Militär gegen Flüchtlinge einzusetzen.

Dieser Mann wird nun als Newcomer just von jenen hofiert, die angeblich so entschieden für eine Moralisierung und Säuberung der Politik eintreten: Ihm gehört das Herz des KP-Nachfolgeführers Achille Occhetto, dessen Partei sich offenbar für nichts zu schade ist, ebenso wie das des industrienahen Republikaner-Chefs Giorgio La Malfa, und auch Saubermann Segni ist für ihn zu haben.

So gesehen, stellt sich schon mancher mit bangem Herzen die Frage, ob nicht der eine oder andere aus dem Altenklub mit seiner notorischen Intriganz wenigstens berechenbarer und politisch verdaulicher war als die Riege der neuen Opportunisten im Gewande der Moralapostel. Werner Raith