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Später hat Barbara noch getanzt

Im Orient-Express von Paris nach Venedig. Der Luxuszug läuft im kommenden Jahr auch deutsche Bahnhöfe an.  ■ Von Reimar Paul

Mademoiselle Claudine wedelt mit einem Telex, das ihr soeben ein Bediensteter der Bahnhofspost in die Hand gedrückt hat: Um etwa eineinviertel Stunden wird sich die Ankunft des Orient-Express verzögern. Das Fährschiff habe zu spät in Folkestone abgelegt. Sie bedaure das, sagt Claudine. Sie bittet, sich mit Kaffee und Erfrischungsgetränken selbst zu bedienen.

Die Reisenden in dem von kleinen Halogenlampen dezent ausgeleuchteten Warteraum reagieren gelassen. Einige erledigen auf den schwenkbaren und in der Höhe verstellbaren Tischchen Schreibarbeiten. Andere schieben ihre Telefonkarte in eines der futuristisch gestylten Telefone oder Faxgeräte. Ein paar ältere Damen blättern in den ausliegenden Nummern des Orient Express Magazine, die zu gut 80 Prozent mit Werbung für Fünfsternehotels, Luxusautos, edlen Schmuck und teure Spirituosen gefüllt sind. Nur Barbara, eine 64jährige Witwe aus San Francisco, ist etwas unzufrieden. Sie hätte, klagt sie, um sich die Wartezeit zu vertreiben, gerne ein Glas Wein oder vielleicht auch einen Cognac offeriert bekommen.

Draußen, auf dem zugigen Bahnsteig Nummer 5 des Gare de l'Est, des Pariser Ostbahnhofs ist der Eincheckschalter. Vor dem mit dicken Kordeln eingerahmten Teakholztresen liegt ein flauschiger roter Teppich auf dem Betonboden. Hier geben die Passagiere ihre Koffer ab, bekommen ihre Abteilnummer mitgeteilt und eine Bordkarte in die Hand gedrückt.

Um 22.15 Uhr erhält der „Venice-Simplon-Orient-Express“ Einfahrt. Viermal wöchentlich macht der Luxuszug in Paris Station. Die dunkelbraunen und cremefarbenen Pullmanwagen werden von einer ganz gewöhnlichen Elektrolokomotive geschleppt. Der dem historischen Orient-Express zumindest optisch weitgehend nachempfundene Zug ist vor gut zehn Jahren, am 25. Mai 1982, in Dienst gestellt worden. Die Route führt von London bis Venedig. 1985 wurde eine neue Strecke über Wien eingeweiht, und seit einem Jahr gibt es auch eine wöchentliche Verbindung nach Budapest. Ab kommenden Mai werden mit Düsseldorf, Köln und Frankfurt auch Abfahrten von deutschen Bahnhöfen angeboten.

Unser Kabinensteward David hat die Koffer mittlerweile in dem engen Zweibettabteil verstaut. Um alle schmucken Details von der handbemalten Holztäfelung bis zu den winzigen Messinghebeln zum Öffnen der Fenster zu bestaunen, sind erhebliche körperliche Verrenkungen nötig. Außerdem ist dafür jetzt kaum Zeit, denn in den Speisewagen hat das Küchenteam bereits zum Dinner gedeckt.

Zum ersten Mal startete ein Eisenbahnzug mit dem Namen Orient-Express am 4. Oktober 1883 in Paris, damals noch vom Gare de Strasbourg. Vierzig handverlesene Fahrgäste waren an Bord, unter ihnen der rumänische König Karl, der türkische Sultan Abdul Hamid und der Journalist Henri Stefan Opper de Blowitz, Frankreich-Korrespondent der London Times. Seinen während der Fahrt abgesetzten Depeschen ist es zu verdanken, daß der Verlauf dieser ersten Orient-Express- Reise in nahezu allen Einzelheiten bekanntgeworden ist. Die Fahrt endete 50 Kilometer hinter Bukarest in der Donaustadt Giurgiu, weiter reichte das damalige Schienennetz nicht. Bis zur Jahrhundertwende blieb die drei Tage und Nächte dauernde Reise mit dem Orient-Express ausschließlich den Berühmten, Reichen und Mächtigen in Europa vorbehalten.

Die Speisewagen sind mit dicken Teppichen, Seidenrollos und aufwendigen Stickereien ausgestattet. Das Porzellan stammt aus China, das Glas aus einer Bläserei im irischen Waterford. In Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit wird das Abendessen etwas hektisch serviert. Die vier Gänge des frisch zubereiteten Standardmenüs – gebackener Fisch, fast rohe Entenfilets, etwas Käse und ein Nachtisch – sind in dem Fahrpreis von 2.550 Mark enthalten. Die Tischweine, sie liegen zwischen 60 und 500 Mark pro Flasche, nicht. Wer möchte, kann gegen eine saftige Extrarechnung auch à la carte speisen. Barbara, die von ihrem Sohn, der dann aber wegen geschäftlicher Verpflichtungen selbst nicht mitkommen konnte, zu der Reise eingeladen wurde, hätte gerne etwas mehr auf ihrem Teller gehabt. Sie setzt ihre Hoffnungen auf den späteren Abend in der Piano-Bar.

1906 wurde der Simplon-Tunnel eröffnet, die mit 12 Meilen und 537 Yards längste unterirdische Eisenbahnröhre der Welt. Sie verkürzte die Reisezeit nach Mailand und Venedig erheblich. Ein zweiter Luxuszug bot Reisenden mit Geld auf dieser Strecke eine Alternative zur alten, mittlerweile bis Konstantinopel reichenden Route. Die Wirren des Ersten Weltkriegs legten den europäischen Zugreiseverkehr vollkommen lahm. Einer der Waggons des Orient-Express war 1918 in Compiègne Schauplatz der deutschen Kapitulation. Die Nationalsozialisten schafften ihn später nach Berlin und zerstörten ihn dort – wohl um zu verhindern, daß er neuerlich den Rahmen für die Unterzeichnung einer Kapitulationsurkunde abgab.

In der Bar herrscht Hochbetrieb. Henry, der Pianist, kommt erst Stunden nach Mitternacht richtig in Fahrt, läßt Zarah Leanders „Wunderbar“ eine ganze Serie schmusiger Foxtrotts und schwülstiger Improvisationen folgen. Hier finden sich die Nachtschwärmer in lockerer und gelöster Runde zusammen: das frisch vermählte Paar aus Glasgow, das im spätherbstlichen Venedig seinen Honeymoon verbringen will. Die greise Gräfin aus Wales und ihre Enkeltochter, die sich auf eine zweimonatige Europareise einstimmen wollen. Die beiden Manager aus Kopenhagen, die Zeit genug haben, um mit dem Zug zur Eröffnung ihrer Italien-Filiale anzureisen. Zwischen den verzierten Tischchen, den gepolsterten Sofas und dem klotzigen Flügel balancieren die Ober ihre Tabletts mit Cognacschwenkern und Sektkelchen. Barbara ist glücklich und vom schweren Wein etwas trunken. Später hat sie sogar noch getanzt.

1921 dauerte die Fahrt im Orient-Express von Paris nach Istanbul 56 Stunden – die schnellste und auch niemals mehr unterbotene Zeit auf dieser Strecke. Trotz aller einschlägigen Bücher und Geschichten, die in den zwanziger und dreißiger Jahren den Zug als vorzugsweises Verkehrsmittel politischer Intriganten und geheimdienstlicher Ränkeschmiede verklärten – die Originalfassung von Agatha Christies wohl berühmtestem Krimi hieß übrigens „Mord im Waggon nach Calais“ –, waren nur die wenigsten Fahrgäste Spione und Kuriere. Im Orient- Express jener Zeit reisten vorwiegend britische und französische Offiziere, die in ihren nahöstlichen Kolonien und Protektoraten nach dem Rechten sehen wollten, Geschäftsleute aus der sich kräftig entwickelnden Ölindustrie, die ihre persischen Quellen am Sprudeln halten, und gutbetuchte Touristen, die in Ägypten ihren Winterurlaub verbringen wollten.

Kochend heißes Wasser schießt aus dem Messinghahn des in den Schrank integrierten Waschbeckens. Weiche Frottierhandtücher liegen bereit, in Folien eingeschweißte Zahnbürsten und ein Stück feiner Seife. David hat das Abteil zur Nacht hergerichtet, aus einem Sofa zwei Schlafstätten gezaubert. Jeder Handgriff, jede Bewegung will nun gut geplant sein. Die Betten sind kurz, die meisten Großen von gestern waren körperlich kleine Leute. Anders als in den modern-sterilen, schall- und luftisolierten Intercity-Expreßzügen erinnern das Rattern der Räder, das Ächzen und Schaukeln der alten Waggons nachdrücklich und unbarmherzig daran, daß man mit der Eisenbahn reist.

Das Frühstück mit Grapefruitsaft und Milchkaffee, warmen Croissants und englischer Orangenmarmelade bringt David in die Kabine. Der Zug hat Zürich passiert, klettert den Bregenzer Wald, die Lechtaler Alpen und das Wettersteingebirge hinauf. Wasserfälle, Viadukte und Wiesen fliegen vorbei. In den Hochlagen und oberen Tälern ist Schnee gefallen. Die Heizung im Abteil ist von Hand regulierbar.

Der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg brachte eine Zwangspause für den Orient- Express. Weite Teile des europäischen Eisenbahnnetzes wurden bombardiert und zerstört. Ein weniger luxuriös ausgestatteter Zug, der zunächst nur zwischen Paris und Triest verkehrte, ging Anfang 1946 wieder auf Tour. In den folgenden Jahrzehnten veränderte sich sein Charakter weiter: Im „Direct Orient Express“, der bis zum Mai 1977 dreimal wöchentlich die Strecken nach Athen und Istanbul bediente, reisten vor allem türkische Gastarbeiter, Rucksacktouristen und Bauern.

In der Bord-Boutique am Eingang zum Speisewagen treffen wir Barbara. Sie sucht nach einem Mitbringsel für ihren Sohn. Für stolze Preise wird allerlei Tand und Schnickschnack zum Kauf angeboten: Seidentücher und Blumenvasen, Weingläser und Aschenbecher, Miniatur-Eisenbahnmodelle und handbemalte Pillendöschen, Kristall-Parfümzerstäuber und Spielkarten. Barbara entscheidet sich für eine elegante in 18 Karat Gold aufgelegte Armbanduhr mit Schweizer Uhrwerk.

Im Oktober 1977 reiste der US- amerikanische Geschäftsmann, Multimillionär und Eisenbahnliebhaber James Sherwood zu einer Auktion nach Monte Carlo. Zur Versteigerung standen auch zwei Wagen aus dem Originalfuhrpark des historischen Orient-Express. Sherwood, der dabei unter anderen auch den marokkanischen König überbot, erhielt den Zuschlag – und legte damit den Grundstock für eine Neuauflage des Luxuszuges. 31 weitere Wagen, zwischenzeitlich auf unterschiedlichste Weise in den Besitz von Museen, privaten Sammlern und Gaststättenbetreibern in ganz Europa gelangt, folgten. Sherwood ließ sie in belgischen, englischen und deutschen Werkstätten komplett restaurieren und dekorieren.

Zwanzig Minuten Halt in Innsbruck. Für die Fahrgäste noch einmal Gelegenheit, sich die Füße auf dem Bahnsteig zu vertreten, eine letzte Totale vom Zug bei Tageslicht zu schießen. Die Küchencrew ist im Streß. Sie muß, während die Entenbrustfilets für das Mittagessen bereits auf den Blechen schmoren, die Zuladung von frischem Brot und Gemüse überwachen.

Am 25. Mai 1982 begab sich der neue „Venice-Simplon-Orient-Express“ mit rund 100 englischen Lords und Ladies, Showstars und Spitzenleuten aus der Industrie auf die Jungfernfahrt von London nach Venedig. Wegen eines technischen Defektes gefror das Wasser in den Tanks, so daß in Paris 400 Flaschen Mineralwasser für den Abwasch eingekauft werden mußten. Seit diesem Datum hat der Zug mehr als 200.000 Kilometer zurückgelegt. Rund 450.000 Passagiere, einer von ihnen bestieg den Zug sogar 47mal, verkonsumierten auf dem Weg zu ihren Reisezielen 60.000 Flaschen Champagner, 1.800 Kilogramm Kaviar und 21.500 Kilogramm Hummer.

Die kulinarischen Extras sind Luxusausgaben. Denn der viergängige aus Langusten, hauchzartem Kalbsfilet, Früchten und Eis zusammengesetzte Lunch ist ebenso im Reisepreis enthalten wie das Gebäck, der Kaffee und die Schokolade am Nachmittag. Während David in der Kabine den Silberteller noch einmal mit Keksen füllt, macht der Lokomotivführer Tempo. Mit 140 Kilometern in der Stunde rast der Orient-Express am Gardasee vorbei, dann durch Verona und Padua die Poebene hinab. Um 18.25 Uhr, die Verspätung ist aufgeholt, erreicht der Zug pünktlich Venedig.

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