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Der Mensch – ein Chaos-Faktor

Serie: Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (7. Folge)/ Der Mensch in der Verkehrsplanung: irrationaler Störfaktor und zugleich hochvernünftiges Wesen im Umgang mit dem Auto  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

In einer der vielen Veranstaltungen, in denen ich zur Diskussion von Verkehrsplanung und Verkehrsentwicklung teilnahm, verblüffte ein namhafter Wissenschaftler einmal eine Runde von Experten mit der Aussage: „Der Mensch ist der Schwachpunkt in der Verkehrsregelung und im Verkehrsgeschehen.“ In der großen Runde herrschte zunächst ratloses Staunen und dann die schüchterne Reaktion eines anderen Wissenschaftlers: „Für den Menschen wird aber doch das gesamte Verkehrsgeschehen veranstaltet.“ Der Verursacher des Erstaunens suchte zu erklären, daß die Technik heute zwar relativ perfekt, der Mensch aber durch sein irrationales Verhalten inzwischen die Hauptstörquelle im Gesamtsystem sei. Hinter dem Ganzen verbirgt sich zum einen die Vorstellung einer kalten Vernunft, die sich in der Perfektion der Technik ausdrückt, und die falsch verstandene Vorstellung vom Menschen und seinem Verhalten.

Aus diesem kleinen Vorfall kann man weitreichende Schlüsse ziehen. Fast alle, die sich mit Verkehr, Verkehrsplanung und Verkehrsverhalten beschäftigen, gehen mit irgendwie gearteten Vorstellungen von Vernunft an das Ganze heran. Sie gehen davon aus, daß sich der Mensch als Einzelwesen vernünftig verhält, daß sich Gruppen, die Industrie und die Wirtschaft vernünftig verhalten und daß die Politik Ausdruck von reiner Vernunft sei. Redet man aber mit Verkehrsplanern über das Verhalten von Menschen, so haben sie das denkbar schlechteste Bild von ihrem jeweiligen Mitmenschen: Er übertritt laufend Gesetze, er betrügt, er lügt, er sucht Vorteile, er ist das an sich schlechte Wesen, und gegen dieses Wesen muß man Ampeln bauen, Barrieren und Schranken errichten, kurz: den Menschen als Ganzes zur Einsicht zwingen. Gleichzeitig glauben dieselben Verkehrsplaner, daß man gegen den Menschen nicht mit Zwangsmaßnahmen und Gesetzen vorgehen darf und ihn mit einer Angebotspalette im Sinne einer marktwirtschaftlichen Angebotsgesellschaft zur Einsicht kitzeln kann.

Wenn man diese Diskussionen verfolgt, fragt man sich unwillkürlich, schließen sie nun von sich auf andere – und die meisten Verkehrsplaner sind in internen Besprechungen hochgradig irrational–, sind sie nur unter sich irrational oder auch mit anderen, und würde es besser werden, wenn man anstatt der Ingenieure, die in der Regel agieren, dort Psychologen, Verhaltensforscher oder sogar Mediziner sitzen hätte, oder sollte man die Verkehrsplaner selbst erst einmal zu Psychologen, Psychotherapeuten oder in sonstige Weiterbildungskurse schicken?

Irrationalität als System

Doch nun ein Sprung in die Realität. Verkehrsplaner bauen vierspurige Straßen, die teilweise mit Geschwindigkeiten von 200 km/h befahren werden können, und stellen Schilder auf, auf denen die Anforderung steht: „50 km/h“. Automobilhersteller bauen Autos, die aus Gründen der Vernunft bei 250 km/h eingeregelt werden, und fordern die Autofahrer auf, diese Fahrzeuge vernünftig, verantwortungsbewußt, kinder- und altenfreundlich im Stadtverkehr – der überwiegenden Nutzung – zu bewegen. Das erreichbare Tempo dort dürfte bei 18 km/h liegen. Ein größerer Teil von Stadt- und Landbewohnern wünscht sich nichts sehnlicher, als in einer total ruhigen Wohngegend mit Tempo 30 oder möglichst Tempo 15 zu wohnen, die Autos nicht auf ihren Straßen abgestellt zu haben, eine Stadt mit parkartigen Boulevards, lärmarm, nur durchweht vom Duft der Pflanzen und Tiere, gleichzeitig fordern die Menschen aber, daß sie selbst mit ihren Fahrzeugen überall hin und überall durchfahren dürfen.

Fast alle sind inzwischen für den öffentlichen Nahverkehr, die wenigsten benutzen ihn, die Politiker fördern ihn nicht, die Betreiber betreiben ihn widerwillig, punkt: Niemand hält sich an Verkehrsregeln, die Polizei kontrolliert kaum, die Automobilindustrie postuliert, sie produziere nur vernünftige Fahrzeuge und appelliert in ihrer Werbung fast nur an das Unbewußte im Menschen, an den Fahrspaß, an die Freiheit oder schlicht an den Lebensgenuß. Die Bürgerinitiativen handeln nach dem St.-Florians-Prinzip, und der Verkehrsminister propagiert öffentlich den Personennahverkehr und fördert die Straße. Und alle sind sogar subjektiv davon überzeugt, daß sie vernünftig seien.

Der Mensch als Maß der Dinge

Und schließlich träumen die Politiker von einem Zeitalter, in dem die Menschen sich mit einem total komfortablen öffentlichen Nahverkehr bewegen, die Automobilindustrie auf geheimnisvolle Weise höchste Rendite erwirtschaftet, um die Arbeitsplätze zu sichern und die Außenhandelsbilanz in Ordnung zu halten. Sie träumen von einem Zeitalter, in dem die Autos mit Sonnenenergie fahren, keinen Platz verbrauchen, die Klimakatastrophe sich als Irrtum der Wissenschaft erweist und das Müllproblem sich durch einen rückstandsfreien Verbrennungsprozeß in nichts auflöst. In einer nachgeschichtlichen Betrachtungsweise künftiger Generationen würde man unser Zeitalter zweifelsohne als das Zeitalter der Irrationalität bezeichnen.

Handelnde von heute müssen sich jedoch mit einer anderen Betrachtungsweise dem Phänomen nähern. Im Mittelpunkt des Ganzen steht – ob man will oder nicht – der Mensch, aber nicht mehr im aufgeklärten Sinne „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ oder unter Beachtung der Menschenrechte, wie sie die Menschenrechtsdeklarationen und die Verfassungen vorsehen, sondern unter der Betrachtungsweise, der Mensch ist das schlicht irrationale Wesen, in dem auch noch einige Prozente Vernunft walten. Wenn man sich nun auf ein Verhältnis von 98:2 zwischen Irrationalität und Rationalität einstellt, dann müßte man an die Verkehrsplanung ganz anders herangehen. Wir müssen uns von der tiefsitzenden Überzeugung fast aller Menschen trennen, daß der Mensch positiv beeinflußbar sei, was die Grundlage unserer heutigen Pädagogik darstellt. Auch die meisten Journalisten, die glauben, durch ihre Medienarbeit Einfluß auf die Menschen auszuüben, suchen immer das Positive, das Pädagogische zu beschreiben. Schopenhauer hat das bereits im 19. Jahrhundert anders gesehen. Der Mensch ändert sich nie, der Charakter des Menschen ist konstant. Er bleibt derselbe das ganze Leben hindurch. Wie er in einem Falle gehandelt hat, wird er unter völlig gleichen Umständen (zu denen jedoch auch die richtige Kenntnis dieser Umstände gehört) stets wieder handeln. Schopenhauer gilt als Realist, dürfte den wenigsten Verkehrsplanern bekannt sein, kann aber als Grundlage für eine neue Verkehrsplanung stehen.

Pädagogische Schizophrenie

Wenn Schopenhauer recht hat – und es spricht wenig dagegen –, dann blieben eigentlich nur die Beeinflussung der Umstände, unter denen ein Mensch handeln kann, und die Beeinflussung des Menschen im Erziehungsprozeß bis zur Herausbildung des Charakters. Dieser dürfte im frühesten Kindesstatus, wahrscheinlich bis zum 5. Lebensjahr, ausgeprägt sein. Darüber hinaus wäre noch zu beachten, daß der Mensch wirklich ein Individualwesen ist. Er findet sich weder in einer Massentierhaltung wieder, wie sie häufig im öffentlichen Personennahverkehr praktiziert wird, noch in der massenpsychologischen Ansprechvariante des ADAC „Freie Bürger fordern freie Fahrt“. So gesehen, müßten also von der Verkehrsplanung her viele Beeinflussungsmethoden direkt sein und an der Wurzel ansetzen. Es nutzt also gar nichts, einem Menschen ein Instrument zu verkaufen, mit dem man 200 km/h schnell fahren kann und ihn dann pädagogisch zu ermahnen, dieses Instrument am besten gar nicht, wenn überhaupt aber nur verantwortungsbewußt und ganz langsam zu benutzen. Es nutzt auch nichts, ihm einen Parkplatz zur Verfügung zu stellen und ihm zu verbieten, auf ihn zu fahren. Es nutzt nichts, ihm Straßen zur Verfügung oder in Aussicht zu stellen, die ganz breit sind, und ihm gleichzeitig zu sagen, daß wenn alle sie benutzen, sie verstopft sind oder daß man sie nur ganz langsam benutzen darf.

Ohne Verbote geht es nicht

Jede Form der Vermeidung muß deshalb auch gemacht, geplant oder unterlassen werden. Verhaltenspsychologisch würde man das heute die negative Zurverfügungstellung nennen, auf deutsch Verbote oder die prohibitionistische Verhaltensbeeinflussung durch Sanktionsandrohung, also Beeinflussung durch Bestrafung oder Nutzungserschwernisse. Darunter fallen Bodenschwellen, Poller, Aufpflasterungen, Blumenkübel, Politessen mit nettem Blick, aber strengem Durchgreifverhalten, Schranken und Einfahrregelungen. Das Ganze endet dann zum Schluß in einer großen Superbürgerinitiative, die den Verkehrsplanern, den Politikern und dem Volk selbst vorschlägt: „Sagt uns endlich klar, was alles verboten ist.“ Die Verbraucher, die Wirtschaft, die Verbände und sogar die Medien und Pädagogen sind längst in dieser Phase. Die einzigen, die noch nicht mitspielen, das sind die Politiker. Sie trauen ihrem Volk nicht, sie halten es für unmündig, und sie halten sich selbst für vernünftig. Sie vergessen dabei ihre Funktion, als gewählte Vertreter des Volkes stellvertretend für dieses auf Zeit handeln zu sollen und handeln zu müssen.

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise; kürzlich erschien „Arbeit bis zum Untergang“ im Raben- Verlag.

Nächste Folge: Anfang Januar

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