: „Die Welt hat uns vergessen“
Über eine Million schiitische Flüchtlinge aus dem Irak sind im Iran gestrandet/ Die meisten schlagen sich mit Jobs und Betteln durch/ Ernüchterung über die Islamische Republik ■ Aus Teheran Klaus Kurzweil
Im Zentrum Teherans, unweit der britischen Botschaft, residiert der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ (SAIRI). Oberhaupt des Bündnisses mehrerer irakisch-schiitischer Oppositionsgruppen ist Ayatollah Baker Al-Hakim. Die iranische Führung sähe den Sproß einer einflußreichen irakischen Schiitenfamilie gerne als Regenten in Bagdad und unterstützt SAIRI nach Kräften.
In der obersten Etage des modernen sechsstöckigen SAIRI-Gebäudes ist das Büro von Abu Hassan Al-Salih untergebracht, ein enger Mitarbeiter Baker Al-Hakims. Al-Salih hat mehrere Jahre in London gelebt und gehört zur Führungsriege von SAIRI. Er ist westlich-leger gekleidet und legt Wert auf sein liberales Auftreten. Außer zwei Fotos von Khomeini und Al- Hakim erinnert in seinem Büro nichts an islamisch-revolutionäre Gesinnung.
Oberstes Ziel von SAIRI sei der Erhalt der staatlichen Integrität des Irak, betont er. „Wir sind gegen jede Zersplitterung“, widerspricht er internationalen Befürchtungen, die irakischen Schiiten planten die Errichtung eines eigenen islamischen Staates im Süden des Landes. Al-Salih befindet sich damit genau auf Linie der iranischen Regierung, die die Minderheiten im eigenen Land vor jeglicher Veränderung der Grenzen in der Region warnt.
Die weiteren Forderungen von SAIRI klingen aus dem Mund Al- Salihs gemäßigt und beinahe wie für die Alliierten im Golfkrieg gegen den Irak geschrieben: Die irakische Bevölkerung solle ohne Einmischung aus dem Ausland in demokratischen Wahlen eine neue Regierung bestimmen. Diese müsse sich dazu verpflichten, alle nationalen oder ethnischen Minderheiten zu respektieren. Den nordirakischen Kurden billige SAIRI volle Autonomie zu, allerdings ohne das Recht auf Abspaltung vom Irak. SAIRI garantiere die Achtung aller internationalen Gesetze und Gepflogenheiten, führt Al-Salih weiter aus, und respektiere die irakischen Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten.
Auf die Frage, ob SAIRI denn nun im Irak einen islamischen Staat nach iranischem Vorbild errichten wolle, antwortet er zögernd: „Wir wollen, daß der Islam als Religion akzeptiert wird. Die irakische Bevölkerung muß aber selbst entscheiden, ob sie eine islamische Regierung will oder eine weltliche.“ Als Beispiel führt er die algerischen Wahlen dieses Jahres vor dem Putsch im Januar an. Erst auf mehrfaches Nachhaken führt Al-Salih aus: „Eine islamische Revolution nach dem Vorbild Khomeinis ist im Irak zur Zeit unmöglich. Deshalb wollen wir unser Ziel durch demokratische Wahlen erreichen. Die Wahlen sind unser strategisches Ziel.“
Ob sich die irakische Bevölkerung im Falle demokratischer Wahlen für eine schiitisch-islamische Regierung unter der Führung Al-Hakims entscheiden würde, ist zweifelhaft. Zwar sind gut die Hälfte der Iraker schiitische Araber, aber längst nicht alle von ihnen favorisieren einen islamischen Staat. Vor allem unter den nach der Niederschlagung der südirakischen Aufstände im Frühjahr 1991 zu Hunderttausenden in den Iran geflohenen Irakern herrscht Unmut über das islamische Gastland. Eine bis anderthalb Millionen irakischer Flüchtlinge leben zur Zeit im Iran. Nach anderthalb Jahren im real existierenden Gottesstaat hat sich unter ihnen Frustration über das islamische Staatssystem und die mangelnde Hilfe breitgemacht. Viele Flüchtlinge bevorzugen daher einen geeinten weltlich- demokratischen Irak. Als Reaktion auf das mangelnde arabische Interesse an ihrem Schicksal nennen einige sogar Israel als Vorbild.
Trotz der damit verbundenen Lebensgefahr pendeln etliche Flüchtlinge zwischen Irak und Iran hin und her. Viele versorgen ihre in den südirakischen Sümpfen zurückgebliebenen Familien mit Lebensmitteln aus dem Iran. Aber auch umgekehrt fließt Geld aus dem Südirak zu mittellosen Verwandten im Iran. Rund 200.000 Iraker sollen im Herbst mangels Perspektive im Iran in den Südirak zurückgekehrt sein. Angesichts der von den Alliierten südlich des 32.Breitengrades durchgesetzten Flugverbotszone hoffen auch die meisten anderen auf eine baldige Rückkehr.
Anders als die Türkei öffnete der Iran während der Aufstände im Irak sofort seine Grenzen für Flüchtlinge. Anfangs wurden sie in Lagern entlang der Grenze aufgenommen, inzwischen leben viele IrakerInnen über den Iran verstreut. Eine finanzielle Unterstützung der Flüchtlinge kann und will sich die mit der iranischen Wirtschaftskrise beschäftigte Teheraner Regierung nicht leisten. Die meisten Flüchtlinge schlagen sich seit anderthalb Jahren mit Aushilfsjobs und Betteln durch.
In Ahwaz, der Hauptstadt der arabischsprachigen iranischen Grenzprovinz Khusistan, schlafen nachts Hunderte von irakischen Schiiten auf der Straße oder auf Hausdächern. Im Hotel „Farhang“*), einer Absteige der untersten Kategorie, leben zur Zeit 14 irakische Dauergäste. Jussuf Basra setzte sich schon während des irakisch-iranischen Krieges von der Armee Saddam Husseins ab. Seit fünf Jahren lebt der 30jährige, der unter einer schweren Wirbelsäulenverletzung leidet, durch den Straßenverkauf von Zigaretten. Die restliche Zeit vertreibt er sich mit Schachspielen. „Ich bin Deserteur der irakischen Armee, also politischer Flüchtling, aber niemanden interessiert das. Weder die Vereinten Nationen noch die Amerikaner, noch die iranische Regierung“, beklagt er sich.
Ebenfalls in dem Hotel lebt der 50jährige Jaffar. Zwanzig Jahre war er Offizier der irakischen Armee. Im Frühjahr 1991 floh der Schiit in den Iran. „Ich habe mit Saddam den Krieg gegen den Iran gewonnen, und anschließend haben wir die Amerikaner in Kuwait besiegt“, erklärt er in zynischer Anspielung auf die offizielle irakische Geschichtsschreibung. Er tippt sich an den schmutzigen Hemdkragen: „Ich hatte viele Abzeichen und Sterne am Revers. Jetzt habe ich gar nichts mehr, aber ich lebe noch.“
In Qom, etwa 100 Kilometer südlich von Teheran gelegen und eine der heiligen Stätten der Schiiten, leben nach Auskunft des örtlichen Roten Halbmondes 1.200 irakische Flüchtlingsfamilien. Bei der islamischen Schwesterorganisation des Roten Kreuzes werden sie sorgfältig nach Herkunftsort registriert. Von Kurkuk über Bagdad bis Basra reicht die Kartei. Die meisten IrakerInnen kommen aus dem schiitischen Süden, eine kleinere Gruppe sind Turkmenen aus der Gegend um die Ölstadt Kirkuk. Ach Najar, zuständig für die Flüchtlinge, ist bemüht, die Verhältnisse so positiv wie möglich darzustellen. Gerne demonstriert er, wie Ventilatoren, Reis und dänisches Milchpulver ausgegeben werden. Die meisten Iraker in Qom lebten in festen Unterkünften, erklärt Nabar. Die Lebensmittel und Ventilatoren finanziere der Rote Halbmond, der wiederum von der iranischen Regierung unterstützt werde.
Die meisten IrakerInnen, die die Hilfsgüter entgegennehmen, sind während der Aufstände im Frühjahr 1991 geflohen. Manche wurden auch als irakische Soldaten von den Alliierten gefangengenommen. Bei ihrer Freilassung kehrten sie nicht in den Irak zurück, sondern gingen in den Iran.
Unter den Flüchtlingen sind auch ein Mullah aus Kerbala und zwei ehemalige Häftlinge aus Basra. Nach sechs beziehungsweise acht Jahren Gefängnis wurden sie von den Aufständischen befreit. Auf die Frage, warum sie gefangengehalten wurden, zucken beide nur mit den Schultern. „Im Irak braucht man dafür keine Gründe“, meint einer und ergänzt: „Wir sind Schiiten.“
Das harmonische Bild wird durch einen durch irakische Folter schwer körperbehinderten Flüchtling gestört. Infolge von Schlägen ist er teilweise gelähmt und schleppt sich mühsam in das Büro Najars. Als er hört, daß sich hier jemand für irakische Flüchtlinge interessiert, entlädt er seine in anderthalb Jahren iranischen Exils angestaute Wut: „Die Welt hat uns vergessen. Nur Gott und der Rote Halbmond helfen uns noch. Aber das ist zu wenig. Die meisten von uns hungern.“ Obwohl Najar, dem das Ganze sichtlich unangenehm ist, versucht, den Iraker zu bremsen, fährt dieser fort: „Wir sind Muslime, aber die islamische Republik rührt keinen Finger für uns. Sie reden bloß, genauso wie Baker Al-Hakim. Der tritt im iranischen Fernsehen auf und schwingt große Reden, aber Hilfe bekommen wir von ihm keine.“
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