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Behinderte werden Opfer von Übergriffen

■ Forum gegen Gewalt an behinderten Menschen / Die Hemmschhwelle zur Brutalität wird in der Gesellschaft niedriger

/ Die Hemmschwelle zur Brutalität wird in der Gesellschaft niedriger

„Nach den rechtsradikalen Mordanschlägen auf Ausländer nimmt die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft insgesamt zu.“ Zu dieser Einschätzung kommt Horst Illiger, Referent für Behindertenhilfe im Paritätischen Wohlfahrtsverband Schleswig-Holsteins (PWV). Immer häufiger, so Illiger, meldeten sich in den vergangenen Wochen Behinderte aus Hamburg und Schleswig-Holstein und berichteten von Angriffen sowohl gegen sich selbst als auch gegen ihre Einrichtungen.

Als Reaktion auf das sogenannte Flensburger Urteil hatte der PWV- Schleswig-Holstein im Oktober ein „Forum gegen Gewalt an behinderten Menschen“ gegründet. Eine Religionslehrerin hatte ihren Reiseveranstalter auf teilweise Rückerstattung von Urlaubskosten verklagt, weil sie in einem Hotel zusammen mit Schwerstbehinderten leben mußte. Das Gericht folgte ihrer Argumentation, sie hätte dadurch einen Teil ihrer Urlaubsfreuden eingebüßt. Selbst der Kieler Behindertenbeauftragte, der aus Wandsbek stammende frühere SPD-Abgeordnete Eugen Glombig, äußerte Verständnis für die Lehrerin. Pikant dabei: Glombig ist seit einer Erkrankung an Kinderlähmung ebenfalls körperlich behindert.

Für Horst Illiger zeigt dieses Urteil, daß „die Rechte behinderter Menschen immer öfter in Frage gestellt werden“. Die Einlassungen Glombigs, aber auch die öffentliche Diskussion um die Tötung schwerstbehinderter Neugeborener und die mörderischen Überfälle Rechtsradikaler würden den Rahmen für einen gesellschaftlichen Umschwung bilden. „Die Hemmschwelle zur Gewalt gegenüber Minderheiten wird in der Gesellschaft insgesamt niedriger“, so Illiger. Ihm seien in den vergangenen Wochen Fälle bekannt geworden, bei denen Behinderte nicht nur beschimpft oder bespuckt wurden, sondern auch deren Rollstühle mutwillig zerstört oder die Reifen ihrer Pkw zerstochen worden sind.

Auch wenn Martin Eggert vom Hamburger Spastikerverein nicht von derartigen Übergriffen in Hamburg berichten kann, teilt er doch die Einschätzung von Illiger. „Die Idioten auf der Straße sehen sich in einem gesellschaftlichen Grundkonsens.“ Die Rechtsradikalen wären nur „besonders hart Ausführende“. Es sei ein Irrtum zu glauben, durch Lichterketten würden diese Probleme gelöst werden. Sie dienten vielfach lediglich der Beruhigung des Gewissens.

Der von Eggert genannte „Grundkonsens“, so scheint es, reicht bis zur Gesetzgebung. In Hamburg streiten sich gegenwärtig das Amt für Rehabilitation und das Arbeitsamt. Eine 35jährige Frau mit zwei kleinen Kindern leidet an einer Augenkrankheit, die binnen kurzer Zeit zur Erblindung führen

1wird. Aus diesem Grund lernt sie gegenwärtig an der Uni die Blindenschrift, um studieren zu können. Das Arbeitsamt weigert sich bislang, dafür die Kosten zu übernehmen. Statt dessen wird ihr eine sechsmonatige „blindentechnische

1Grundausbildung“ im Schwarzwald angeboten, die neben der Punktschrift noch Deutsch, Mathematik und Sport beinhaltet. Daß die junge Frau nicht nur über ihr Abitur verfügt, sondern auch vier- Fremdsprachen beherrscht und ein-

1zig die Blindenschrift jetzt wichtig ist, zählt für das Arbeitsamt nicht. Aber so ist das eben, behindert gleich geistig beschränkt gleich lästige Minderheit. Und mit denen kann man's ja machen. Norbert Müller

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