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Picasso: Die Stilleben

■ Die Tragödie der Moderne: Man kann nur noch Sachen malen. „Picasso et les choses“ in Paris

Man müsse die Dinge „lieben und lebendig verspeisen“, hat Picasso 1935 notiert – und er hat sich dran gehalten: zeitlebens hat er mit toten Sachen experimentiert, hat sich bisweilen mehr für Obstschalen, Kerzenhalter, Gitarren und Stierschädel interessiert als für den großen Krieg und die noch größere Sexualität. Das Stilleben, das im Französischen so treffend nature morte heißt, ist seine Laborsituation gewesen, in der er sich und seine Wahrnehmung einer zersplitternden Welt ständig neu definierte. Und eine ganze Ausstellung nur mit toter Materie zu machen, das ist eine wahnwitzige Idee. Die Pariser können (im „Grand Palais“) dieses Picasso-Material derzeit abwandern, erkunden, ausschöpfen, und nach Besuch der Exposition hat man ein halbes Jahrhundert Kunstgeschichte und doch nur einen einzigen Maler gesehen. Der Mann ist ein Chamäleon und ein kreatives Genie, vielleicht aber auch ein Menschenfresser.

Denn: Hier malt er wie Braque, dort wie Gris; morgens ist er bekennender Kubist, mittags ein bißchen Pointillist, abends verkleidet er sich als großer Naiver und Objektkünstler; im einen Raum streng ocker, im anderen grau, im nächsten dann so nett popfarben; hier die freundliche bauchige Vase (ach ja, die „üppigen Formen“ nannte das früher unser verzweifelter Studienrat), dort die von den Kräften des Bösen (und der Multiperspektivität) zersprengte Gitarre: überall ist er einen Schritt voraus, hat schon ein neues Thema, eine perfekte wilde Form gefunden; mal ist es ironisches Zitat, mal verzweifelter politischer Reflex. Und die nature morte ist sein Experimentierfeld.

Durch die Ballung solch toter Arrangements wird aber auch klar, daß Picasso Menschen später stets wie Dinge gemalt hat: kühl, analysierend, zerlegend, neu zusammensetzend – die zerstörte Gitarre ist die Vorform des Krüppels. Man kann nur noch Sachen malen: die Tragödie der Moderne. Auch der Krieg ist eine Sache. „Guernica“ zeigt nicht Menschen, sondern den Krieg: Lebewesen im Moment des Todes. Dinge. nature morte.

Die Pariser Ausstellung erzählt, chronologisch durch alle Perioden des Werkes, Picassos Weg vom Formenzerbrecher und politischen Fratzenschneider bis zum altersheiteren abstrakten Blümchenmaler der Spätphase. Die blaue Periode, in der er sich auf Alltag, Armut, soziale Deklassierung einließ, fehlt charakteristischerweise ganz – die trübsinnigen Clowns auf diesen Bildern fallen nicht unter die Rubrik Stilleben. Statt dessen viel zerrissene Zeitungen, Likörflaschen und verwesende Stierköpfe – analytischer und synthetischer Kubismus, Erkundung des Alltags, Reminiszenzen an das im Bürgerkrieg versinkende Spanien; die Formen werden immer komplexer, aber auch überladen; der Franco-Faschismus taucht, in der mythisierten Verkleidung des Minotaurus, in einigen Szenen drohend am Fenster auf. Hinter der kreativen Energie der abrupten Stilwechsel steht die Erfahrung einer sich selbst ebenso energisch zerstörenden Gesellschaft: Am Ende von „Picasso et les Choses“ weiß man, daß wir im Jahrhundert der Totenköpfe leben. Man müsse den toten Dingen Leben einhauchen, glaubte Picasso, und zwar durch Malerei. Eine Art Götterwahn, eine Selbsttherapie. Christian Gampert

Im „Grand Palais“. Bis 28.Dezember. Der Katalog kostet 480FF.

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