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Die Revolution frißt den Erfinder

Wenn heute bei der 41. Vier-Schanzen-Tournee Skispringer im V-Stil siegen, fehlt dessen Erfinder Jan Boklöv ebenso wie sein Musterschüler, der Titelverteidiger Toni Nieminen.  ■ Von Herrn Thömmes

Das also ist ein Revolutionär. Einer, der eine ganze Sportart auf den Kopf gestellt hat. 26 Jahre alt, ganze 168 Zentimeter groß und 60 Kilogramm schwer. Im leicht geröteten Gesicht wie so oft die rötlichen Bartstoppeln, die Haare kurz und störrisch, den Blick fast schüchtern gesenkt, so sitzt Jan Boklöv da und rührt in seinem Cappuccino. Still, unauffällig, von der Öffentlichkeit fast vergessen. Und doch würde ihm Österreichs Springercoach Toni Innauer am liebsten ein Denkmal bauen: „Boklöv hat fürs Skispringen Elementares geleistet, viel mehr als jeder Weltmeister oder Olympiasieger.“

Das ist wohl wahr, nur: Absicht oder gar System steckten überhaupt nicht dahinter. Es war bloß einfach so, daß es Jan Boklöv einmal seine Skispitzen im Flug vorne auseinanderdrückte – „und plötzlich ging's weiter als je zuvor“. An den Monat oder womöglich den genauen Tag, an dem der V-Stil erfunden wurde, kann sich der Schwede nicht mehr erinnern; er weiß nur noch, daß es im Sommer 1985 war, im Training, in Falun. Danach ist er nie mehr im klassischen Stil, mit parallelen Ski, gesprungen, aber wie hätte er denn damals wissen sollen, „daß das einmal berühmt wird“? Dieser Ausrutscher, dieser Beinahe-Unfall.

Sie hat ja auch ganz langsam angefangen, diese von ihm ausgelöste Revolution einer ganzen Sportart, und anfangs hat er sich reichlich verspotten lassen müssen von der Konkurrenz, etwa als „Frosch unter den Adlern der Lüfte“. Auch Innauer kennt noch seine Reaktion, nachdem er Jan Boklöv erstmals so eigenartig hatte zu Tal segeln sehen: „Staunen.“ Und so was sollte Zukunft haben? Selbst vor eineinhalb Jahren noch hat der Österreicher Andreas Felder bestenfalls vermutet, „in fünf Jahren gibt es nur noch den V-Stil“.

Doch schon bei den Olympischen Winterspielen von Albertville, neun Monate später bloß, war für die Klassiker nichts mehr zu gewinnen. Und wenn heute in Oberstdorf die 41. Vier-Schanzen- Tournee beginnt (mit Garmisch- Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen als weiteren Stationen), dann werden Springer mit paralleler Skiführung zu den belächelten Exoten gehören – wenn es sie denn noch geben sollte.

Auch einstige Verweigerer wie Dieter Thoma (Springen hat schließlich mit Ästhetik zu tun“) oder Jens Weißflog haben umgestellt vor diesem Winter, haben wie alle deutschen Springer Tests gemacht im Windkanal des Leipziger Instituts für angewandte Trainingswissenschaft, um gerüstet zu sein für den Sprung in die neue Zeit. „Klassiker“, heißt es beim Deutschen Skiverband, „brauchen wir gar nicht mehr mitnehmen.“ Die ersten Resultate der beiden früheren Sprung-Asse im diesjährigen Weltcup allerdings waren dürftig, lediglich Christoph Duffner als gelernter V-Springer konnte halbwegs überzeugen und sprang am Montag im Training in Oberhof mit 115 Metern Tageshöchstweite. Auch Dieter Thoma fliegt sich langsam aufs V ein. Wie der Weltcup-Spitzenreiter Werner Rathmayr (Österreich) schwebte er 114 Meter weit zu Tal und erklärte danach: „Ein irres Feeling.“

Dies verspürten im wahrsten Sinne des Wortes auch seine beiden Kollegen Ralph Gebstedt aus Oberhof und der Österreicher Stefan Horngacher. Horngacher war auf der eisigen Anlaufspur ins Rutschen geraten, hatte den Absprung verpaßt, fiel bei 50 Metern wie ein Stein herunter und überschlug sich mehrfach. Er wurde wegen einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert. Nach dem Unfall wurde die Schanze neu präpariert, doch dies verhinderte nicht den Sturz von Ralph Gebstedt. Er brach sich bei einem Sturz das Schlüsselbein.

Das schwedische Team, bei Olympia noch gemischt am Start – weil der Prophet im eigenen Land ja nichts gilt –, wird komplett im V- Stil starten. Hätten denn sie nicht, den Pionier stets vor Augen, von Boklövs Erfahrung am ehesten, schnellsten lernen können? Da muß der Trainer richtig lachen: „Jan weiß da nichts drüber – der tut's doch einfach.“

Einfach tun, das ist einfach gesagt. Was muß einer für einen zähen Willen besitzen, um über Jahre der Frustration bei seiner Entdeckung zu bleiben? Es gab ja keinen, den Boklöv hätte fragen, der ihm Hilfe hätte bieten können. Und genau das ist es, was Innauer so viel Respekt abnötigt: „Der hat ganz ohne Wissenschaft angefangen, nur aus dem Gefühl heraus.“ Die Nachfolger indes wissen längst, daß durch die aufgeklappten Ski die von der Luft angeströmte Fläche sich von 0,5 auf 0,7 Quadratmeter vergrößert, daß es sie fünf bis zehn Meter weiter hinunter trägt auf diese Weise. Manch einem genügen heute dank neuer Kenntnisse ein paar Wochen, sich auf den V-Stil umzustellen: Jan Boklöv brauchte noch vier lange Jahre, seinen einmaligen Fehler zu perfektionieren.

„Wenn ich an etwas glaube, bleibe ich dabei“, sagt Boklöv. Es hätte ja gut sein können, daß er damals alleine bleibt mit seiner Marotte. Daß auch der Schweizer Stefan Zünd, der ihn '87 als erster kopierte, nur ein weiterer schräger Vogel gewesen wäre. Dem Boklöv war's egal, der hat keinen überredet, es ihm nachzutun: „Wenn einer keinen Fisch mag, warum soll er ihn dann essen?“ Weshalb ihn auch die Diskussion, ob diese Art zu springen denn nun Boklöv-Stil oder V-Stil oder Schere zu nennen sei, nicht kümmert, mag auch Toni Innauer das gar nicht gefallen: „Andere Erfinder werden auch verewigt, ich bin für Boklöv-Technik.“ Der Schwede aber weiß um die Vergänglichkeit des Ruhms innovativer Sportler: „Wer weiß heute noch, wer den Flop im Hochsprung oder das Skating im Langlauf entwickelt hat?“

Es wäre dem mehrfachen schwedischen Meister viel lieber gewesen, die Punktrichter hätten ihn anfangs weniger abgewertet, doch „die waren verrückt“. Gaben ihm oft nur 15 Punkte in den Haltungsnoten für eine Luftfahrt, damit war schwer zu gewinnen. Bei der Vier-Schanzen-Tournee 1989 sprang er sogar elf Meter weiter als jeder andere – und wurde doch nur Fünfter. Doch seinen Sieg im Gesamtweltcup jener Saison konnten auch die Traditionswahrer nicht verhindern. Nicht, daß der V- Mann rückblickend deren ästhetische Bedenken nicht verstünde, und noch in Albertville schaute er verzückt die Schanze zu den letzten Klassikern hinauf und meinte, ganz ohne Ironie: „Der Jens Weißflog, sieht der nicht wunderschön aus in der Luft – wie im Lehrbuch?“

Als Weltcupsieger, der erste aus Schweden, da war er wer in seiner Heimat.

Und plötzlich, ganz unvermittelt, sagt Jan Boklöv: „Berühmt war ich auch, weil ich stottere und Epileptiker bin.“ Ganz selbstbewußt kommt das raus und gar nicht mehr so gehemmt wie am Anfang des Gesprächs, als er diesen Teil seiner Lebensgeschichte zu erzählen beginnt. „Ich muß darüber reden, schließlich müssen die Leute wissen, was los ist, wenn ich einen Anfall kriege.“ Seit dem elften Lebensjahr hat er die Krankheit, muß er Tag für Tag Medizin einnehmen, die ihn, den Leistungssportler, müde macht. Und noch immer hat er Anfälle, etwa 40 im Jahr. Soll ich deshalb, fragt er, denn immer nur zu Hause sitzen? Auch beim Springen sei es ihm schon mal passiert, was zum Glück glimpflich abging, „aber ich kann ja auch über die Straße gehen, und ein Auto fährt mich tot“.

Er ist schon ein interessanter Typ, dieser Jan Boklöv, auch wenn er auf der Schanze längst nicht mehr zu den Besten gehört. Eine Verletzung hat ihn vor zwei Jahren schon zurückgeworfen, wonach er 50. wurde im Gesamtweltcup. Auch in der vergangenen Saison reichte es nicht nur zum 48. Platz, Albertville zeigt ihn in den Ergebnislisten ganz hinten. „Denn seine ökologische Nische“, sagt der Bewunderer Innauer ganz unsentimental, „ist weg. Er ist ja nicht der Begabteste.“ Anders als früher nutzen in diesem Winter die Besten den Vorteil der neuen Technik, weil der internationale Verband FIS schon vor der olympischen Saison das Reglement geändert hat: Nur noch 0,5 Punkte mußten den V-Springern bei den Haltungsnoten abgezogen werden.

Ein Vorteil, der Doppelolympiasieger Toni Nieminen nicht recht freuen will. Der 17jährige, der 1991 das schönste V der Branche sprang, befindet sich im Formtief und sagte die Vierschanzen-Titelverteidigung ab.

Auch Jan Boklöv wird heute fehlen. Die nationale Konkurrenz ist besser – die Revolution frißt den Erfinder. Das ist ein wenig traurig für ihn, aber Boklöv hat gewußt, daß er irgendwann nur noch zu Hause sitzen wird, um „mit den Kindern auf dem Schoß“ im Fernsehen die anderen V-Springer anzugucken. Und dann nicht ohne Stolz zu sagen: „Schaut her, das ist mein Ding.“

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