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EG: Einziger Wirtschaftsblock mit Zukunft?

Die wirtschaftliche Integration und politische Zergliederung in der Welt von heute/ Wirtschaftspakte entstehen und vergehen/ taz-Binnenmarkt-Serie, Teil 8  ■ Von Elmar Altvater

Wer sich einen Überblick über die Welt von heute verschaffen will, braucht einen brandneuen Atlas, denn politische Karten veralten derzeit sehr schnell. Die Staatenwelt nach den beiden großen Kriegen dieses Jahrhunderts zerbricht, neue Staaten entstehen, von denen niemand weiß, ob sie am Ende dieses Jahrtausends noch in den Atlanten verzeichnet sein werden. Doch ebenso wie die politische Desintegration nimmt die ökonomische Integration zu, werden Wirtschaftsblöcke gebildet. In den vergangenen Jahrzehnten hat die weltwirtschaftliche Verflechtung, zumindest in der OECD-Welt, den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, deutlich zugenommen. Die Zuwachsrate des Welthandels war von 1970 bis 1991 mit mehr als 5 Prozent fast doppelt so hoch wie die durchschnittliche Wachstumsrate des realen Sozialprodukts in der Welt.

Zum 1. Januar 1993 wird in Westeuropa der gemeinsame Markt hergestellt. Aber die Westeuropäer können sich nicht einfach nach der mit dem Vertrag von Maastricht in Aussicht gestellten Wirtschafts-, Währungs- und politischen Union behäbig zurücklehnen. Da gibt es die mit der Integration gleichzeitig aufbrechenden regionalistischen und zum Teil separatistischen Bewegungen. Dann den Wohlstandschauvinismus, der sich gegen die „Fremden“ richtet, besonders dumpf und brutal im „vereinigten“ Deutschland. Gleichzeitig erleben wir im osteuropäischen Flügel des „europäischen Hauses“ die chaotische Auflösung jahrzehntealter wirtschaftlicher Beziehungen, ja mehr noch: den Zusammenbruch der politischen Ordnung in der Ex-Sowjetunion, in Jugoslawien, der ČSFR.

Wachsender Protektionismus

Während in der „Uruguay- Runde“ des Gatt über den Abbau von Zöllen und die Öffnung der Märkte für Dienstleistungen und Informationen verhandelt wird, ist der Protektionismus weltweit auf dem Vormarsch. Nach Weltbankangaben haben „nicht-tarifäre Handelshemmnisse“, also etwa Importbeschränkungen, Ausfuhrsubventionen, Selbstbeschränkungsabkommen oder Schikanen bei der Zollabfertigung seit Mitte der 70er Jahre um 20 Prozent zugenommen. Hauptsünder sind die Industriestaaten, Hauptleidtragende die Entwicklungsländer.

Auf der einen Seite die Globalisierung des internationalen Kreditsystems, das die Steuerung des Wirtschaftsprozesses schon längst übernommen hat. Die verschuldeten Länder auf der südlichen Erdhälfte und in Osteuropa können ein Lied davon singen, wie unerbittlich die Restriktionen des Geldes sind, wenn Zinsen in harter Währung gezahlt werden müssen. Auch in den Industrieländern erfährt man in den periodischen Währungs- und Kreditkrisen, daß Geld die Welt regiert und Finanzminister und Notenbankchefs zwar mit großen Worten, aber doch hilflos reagieren.

Auf der anderen Seite jedoch die Zunahme des geldlosen Tauschhandels (countertrade, Kompensationsgeschäfte). Länder, die über keine oder zuwenig Devisen verfügen, müssen Waren gegen Ware tauschen. Geld – das Insigne der Moderne, die Voraussetzung der gepriesenen marktwirtschaftlichen Rationalität – spielt bei gut einem Viertel des Welthandels nur die kümmerliche Rolle einer Verrechnungseinheit. Bei Weltexporten von insgesamt 3.525 Milliarden US-Dollar im Jahre 1991 wären das immerhin nichtmonetäre Geschäfte im Umfang von etwa 880 Milliarden.

Über 70 Prozent des (monetär bewegten) Welthandels wird zwischen den Industrieländern abgewickelt, nur zwei Promille entfällt auf die am wenigsten entwickelten Länder. Die Weltwirtschaft ist von den OECD-Ländern dominiert, so sehr, daß etwas voreilige Autoren davon sprechen, man könne die „Dritte Welt“ auch vergessen; die Industrieländer kämen auch ohne sie über die Runden. Dabei wird aber übersehen, daß den Globus nicht nur ein Netz von Handelsbeziehungen und Kapitalbewegungen überzieht, das es in der nördlichen Hälfte immer engmaschiger, in der südlichen immer dünner wird, sondern daß die Erde auch eine ökologische Einheit ist, aus der nicht ohne Konsequenzen für die Industrieländer halbe Kontinente und ganze Kulturen abgeschrieben werden können.

Wirtschaftliche Integration braucht politische Vorgaben

Die Erklärung für diesen Widerspruch zwischen Expansion des Welthandels und gleichzeitig zunehmenden Handelshemmnissen ist naheliegend: Offenbar ist es nicht der segensreiche freie Markt, der Handel und Wandel beschleunigt, die „National“ökonomien internationalisiert und einen einheitlichen globalen Wirtschaftsraum herstellt, sondern die Politik. Sie schafft die Rahmenbedingungen für internationale Kooperation und Integration. Angesichts der internationalen ökonomischen Beziehungen reicht sie weiter als der traditionelle „kleine“ Nationalstaat, aber weniger weit als der „große“ Weltmarkt. Die Bildung wirtschaftlicher Blöcke ist daher eine naheliegende Option. In Europa ist dies offensichtlich, waren es doch politische Vorgaben, vor allem aus Bonn und Paris, die die EWG in den 50er Jahren aus der Taufe gehoben haben. Heute finden 54 Prozent der deutschen Exporte in den anderen EG-Ländern ihre Käufer. Bei den europäischen Nachbarn ist das so anders nicht. Ein großer Teil des sogenannten Welthandels ist schlicht Intra- Blockhandel, und der ist in hohem Grade politisch reguliert.

Es ist diese Lehre, die die USA dazu veranlaßt hat, trotz marktliberaler Rhetorik unter Reagan und Bush in Nordamerika einen Handelsblock zu errichten und die NAFTA (North American Free Trade Association) auf den fast track politisch beschleunigter Abkommen zu bringen. Die offenbaren Vorzüge der regionalen Wirtschaftskooperation haben im pazifischen Raum Japan, Südkorea und Australien zur Asian-Pacific Economic Cooperation (APEC) zusammengebracht. Die besseren Möglichkeiten der politischen Stimulierung des Handels und der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb einer Wirtschaftsgemeinschaft reizen Argentinien, Uruguay, Paraguay und Brasilien zum „Mercosur“, an den sie die Hoffnung knüpfen, den Großmächten des Weltmarktes Paroli bieten zu können. Am letzten Beispiel lassen sich die Schwierigkeiten aufzeigen, die der ökonomischen Integration zwischen nationalen Wirtschaftsräumen entgegenstehen und die in vielen Fällen in Afrika, in Lateinamerika und in Europa zum Scheitern oder Einschlafen von Wirtschaftsblöcken geführt haben. Das kleine Uruguay ist im wesentlichen ein Steuerparadies, eine große Freihandelszone für Investoren aus den Industrieländern. Paraguay ist eine korrumpierte Schmuggelökonomie, die Waren aus aller Welt importiert, um sie mehr oder weniger illegal nach Brasilien und Argentinien weiterzuverkaufen. In Argentinien ist seit der Militärdiktatur Mitte der 70er Jahre gemäß der neoliberalen Ideologie die staatliche Regierungskapazität radikal durch Privatisierung und Deindustrialisierung abgebaut worden. Brasilien wiederum befindet sich jenseits des Randes zum ökonomischen Chaos, auch wenn das Land im Süden über moderne Sektoren verfügt. Der „Mercosur“ ist eine gute Absicht, aber das ökonomische Fundament der beteiligten Länder trägt das Integrationsprojekt nicht. Man kann nicht gleichzeitig eine Politik der neoliberalen Handelsliberalisierung und der Integration von Wirtschaftsräumen verfolgen.

Ökonomische Integration setzt Minimum an Kohärenz voraus

Handelsblöcke müssen ein Minimum an Kohärenz zwischen den beteiligten Ökonomien aufweisen, um funktionstüchtig zu sein oder zu werden. Im EG-Europa war diese Bedingung ohne Zweifel erfüllt, und im Verlauf der inzwischen fast 40jährigen Integrationsgeschichte haben sich Wirtschaften, Gesellschaften und Politik weiter angenähert, auch wenn die Unterschiede beispielsweise zwischen Dänemark und Portugal immer noch beträchtlich sind: Das Pro-Kopf-Einkommen und die Produktivität der Arbeit Portugals betragen weniger als ein Fünftel des dänischen oder (west)deutschen Niveaus. Aber es gibt Mechanismen und Institutionen des Ausgleichs, die für die Funktionsweise einer Wirtschaftsgemeinschaft unverzichtbar sind: Die Regional-, Struktur- und Kohäsionsfonds der Gemeinschaft und die Koordinierung von Bereichen der nationalen Politik in Brüssel.

Die wichtigste Gemeinsamkeit jenseits aller Niveauunterschiede: alle westeuropäischen Länder sind Industrieländer, wenn auch zum Teil mit großen agrarischen Sektoren. Dies ist in den anderen Handels- und Wirtschaftsblöcken nirgendwo der Fall. Im Pazifik kooperieren im APEC das hochentwickelte Industrieland Japan und das Schwellenland Südkorea mit dem Rohstoffland Australien, das nur über eine Industrie von regionaler Bedeutung verfügt. In Nordamerika bildet die führende Industriemacht USA eine Assoziation mit dem reichen Kanada und dem armen Mexiko. Mexiko bietet den USA in erster Linie ein billiges Arbeitskräftereservoir und ist für die US-amerikanische Ölversorgung wichtig. Ob sich auf dieser Arbeitsteilung eine vertiefende Integrationsdynamik entfalten kann, ist mehr als fraglich.

Fragezeichen gibt es auch in Osteuropa und in der GUS. Die Zerschlagung der durch die Planwirtschaft geknüpften Netzwerke innerhalb und zwischen den RGW-Staaten, die der zum Teil räuberischen Privatisierung geopfert wurden, ist nicht rückgängig zu machen — zumal dann nicht, wenn neoliberal munitionierte Strategien handlungsmächtig werden. Deren Zielrichtung ist die Vermarktung, und da der nationale Markt zusammengebrochen ist, bleibt nur die bewußtlose Öffnung zum Weltmarkt. Das ist aber bekanntlich der Markt der Industrieländer. Wie also kann man dort, mit niedriger Produktivität und hinkebeiniger Konkurrenzfähigkeit mithalten? Indem die einzigen Vorteile mobilisiert werden, über die die Länder jeweils verfügen: Rohstoffe, billige Arbeitskraft und fehlende Staatlichkeit, d.h. niedrige Steuern sowie weiche Sozial- und Umweltauflagen für die Unternehmen. Das sind zwar alles beste Voraussetzungen für die Errichtung freier Wirtschaftszonen. Für die Industrieländer aber sind sie so wichtig wie der Blinddarm für den Körper. Die in Rußland geplanten freien Wirtschaftszonen von Sachalin bis Kaliningrad sind die Symptome der ökonomischen Desintegration nach dem Ende der Planwirtschaft. Sie stehen für eine Politik, die nicht auf Erhaltung und Verbesserung der internen Verflechtung und Kohärenz des riesigen russischen Marktes zielt, sondern auf die kurzfristig mobilisierbaren Vorteile der Unterentwicklung. Man kann so verfahren, nur darf man damit keine Hoffnungen auf Entwicklung und Modernisierung verbinden.

Blockbildung keine Garantie gegen politische Fragmentierung

Der einzige Wirtschaftsblock mit Zukunft scheint also die EG zu sein. Alle anderen Versuche dürften mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Infolgedessen wird auch in Zukunft die Weltwirtschaft von der (ungleichen) Arbeitsteilung zwischen den Industrieländern und den Rohstoffländern gekennzeichnet sein — den eigentlichen, durch Marktmechanismen verfestigten und politisch gestützten Ländergruppen. Arbeitsteilung ist daher ein Euphemismus, wenn man deren Resultate in den vergangenen Jahrzehnten in Rechnung stellt: Sowohl Armut als auch Reichtum sind in der Weltgesellschaft gewachsen und damit der Gegensatz zwischen Nord und Süd. Zum Süden werden in Zukunft viele Regionen des ehemaligen Ostens zu zählen sein.

Ökonomische Integration durch Blockbildung ist aber, dies zeigt heute die EG, keine Garantie gegen politische Fragmentierung. Denn ökonomische Integration erfordert auf jeder ihrer Stufen die Einhaltung bestimmter Regeln. Diese werden strikter, wenn der Prozeß der Integration zu einer Wirtschafts- und Währungsunion fortschreitet. Dann können Unterschiede zwischen Nationen und Regionen nicht mehr durch Wechselkursanpassungen ausgeglichen werden, sondern nur noch durch Anpassungen der Lohnkosten an das jeweilige Produktivitätsniveau. Dort, wo es hoch ist, können auch die Löhne steigen; dort, wo es niedrig ist, müssen auch die Löhne nach unten angepaßt werden. Dadurch werden Wanderungsbewegungen ausgelöst, die in den reicheren Regionen wohlstandschauvinistische Reaktionen auslösen. Der politische Integrationsprozeß kommt bei verfestigten Einkommensunterschieden innerhalb eines Wirtschaftsblockes zum Halt. Die politische Einigung aber ist wiederum Vorbedingung für eine weitere wirtschaftliche Integration, etwa für die Währungsunion. Kommt die politische Integration, d.h. die Übertragung von Souveränitätsrechten auf supranationale Institutionen und die Etablierung von Formen der demokratischen Partizipation auf allen Ebenen nicht zustande, ist auch die Währungsunion nicht zu machen. Der europäische Integrationsprozeß ist nach den Referenden in Dänemark und Frankreich, nach der Währungskrise vom September und dem Kleinkrieg um Raps, Soja und Weißwein ins Stocken geraten. Es ist aber höchst unwahrscheinlich, daß er zurückgedreht wird. schließlich sind die Vorteile eines halbwegs funktionierenden Wirtschaftsblocks groß genug, um sich auf die Interessen an seiner Erhaltung verlassen zu können.

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