Die Grenzbäume in Europa fallen noch lange nicht

■ Der Binnenmarkt geht an den Start – hier die wichtigsten Änderungen

Wenn zu Silvester die Sektkorken knallen, ist es soweit: Das Projekt „Europa ohne Grenzen“ geht an den Start. In dem gemeinsamen Binnenmarkt für 340 Millionen Verbraucher soll es künftig für Personen, Güter, Kapital und Dienstleistungen nichts Trennendes mehr geben. Doch wer sich gewünscht hat, daß zum Jahreswechsel an den nationalen Binnengrenzen Wachstuben und Grenzbäume verschwunden sind, sieht sich getäuscht. Bislang sind nur 95 Prozent der notwendigen Gesetze beschlossen und gerade 75 Prozent davon in nationales Recht umgesetzt.

Nicht geregelt werden konnten beispielsweise die Beseitigung der Doppelbesteuerung von Unternehmen, ein gemeinsames Markenrecht oder die Schaffung europäischer Aktiengesellschaften. Unternehmen müssen ihre Tochtergesellschaften immer noch nach dem Recht des jeweiligen Gastlandes gestalten und den Schutz einer Handelsmarke in allen zwölf Ländern beantragen. Auch Arbeitnehmer werden weiterhin durch das nationale Steuerrecht benachteiligt: Sie können trotz Niederlassungsrecht etwa vorhandene Steuervorteile im Gastland nicht wahrnehmen. Von einheitlichen Normen ist der westeuropäische Wirtschaftsraum ebenfalls noch weit entfernt. Nur ein Beispiel: Wer die grenzenlose Mobilität auskosten will, muß sich nach wie vor einen Adapter für Steckdosen besorgen. Die Bundespost weigert sich, die Post nachzusenden; der freie Arbeitsmarkt bleibt ein Abenteuer, und die Versicherungen wollen ebenfalls nicht viel von einem in anderen Ländern geltenden Schutz wissen. Selbst der freie Wettbewerb, das Kernstück des Binnenmarkts, hat seine Grenzen: So blieben etwa die Monopole im Energiebereich oder bei der Telekommunikation bis auf weiteres unangetastet.

Dennoch ergeben sich für die Menschen zum Jahreswechsel eine Reihe von Änderungen:

Aufenthaltsrecht: Jeder EG- Bürger kann im Land seiner Wahl leben. Sie müssen allerdings eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen und nachweisen, daß sie genügend Geld haben und dem Staat nicht zur Last fallen.

Personenkontrollen: Aus Sicherheitsgründen wird es bis mindestens Mitte 1993 sporadische Personenkontrollen wie bisher an den Grenzen der EG-Staaten geben. Die Grenzbäume sollen erst dann nach und nach fallen, wenn das Schengener Abkommen ratifiziert ist. Wer künftig nach Österreich oder in die Schweiz reist, muß sogar mit schärferen Kontrollen an der Grenze rechnen. Großbritannien, Irland und Dänemark, die das Schengener Abkommen nicht unterzeichnet haben, wollen nur EG-Bürger ohne größere Kontrollen durchlassen. Also: Personalausweis nicht vergessen!

Mehrwertsteuer: Eine für alle spürbare Folge des EG-Binnenmarktes ist die Anhebung der Mehrwertsteuer in Deutschland auf 15 Prozent. Dies ist der Mindestsatz, der künftig in der gesamten EG nicht unterschritten werden darf. Um einen EG-weiten Handel ohne Kontrollen zu ermöglichen, war ursprünglich eine einheitliche Mehrwertsteuer geplant. Da einige Staaten jedoch Milliardenverluste an Steuern befürchteten, ist es beim Mindestsatz geblieben. Die Dänen müssen auch nach 1993 25 Prozent und die Belgier 19,5 Prozent Mehrwertsteuer bezahlen.

Private Einkäufe: Wer künftig durch die EG reist und für den Eigenbedarf einkauft, braucht die Grenzkontrolle nicht mehr zu fürchten. Umzugsgut oder Waren können künftig problemlos mitgenommen werden. Für Alkohol und Zigaretten gibt es allerdings Höchstgrenzen: 800 Zigaretten, 90 Liter Wein, 110 Liter Bier und 10 Liter Hochprozentiges. Wer mehr mitnehmen will, muß nachweisen, daß es für den persönlichen Gebrauch bestimmt ist.

Geldverkehr: Einen freien Kapitalfluß gibt es in neun EG-Staaten schon seit 1988. Nun werden sich auch Portugal, Irland und – mit einjähriger Verzögerung – auch Griechenland anschließen. Die Währungsturbulenzen der vergangenen Monate haben jedoch gezeigt, daß der freie Kapitalverkehr auch schnell wieder eingeschränkt werden kann. Spanien und Irland führten bereits wieder Kontrollen ein. Ab 1993 dürfen die Banken in der ganzen EG tätig werden; zugelassen und kontrolliert werden sie aber nur im Heimatland. Die VerbraucherInnen werden jedoch weiterhin mit hohen Bankgebühren für Überweisungen ins Ausland zur Kasse gebeten. Ein Ärgernis bleiben auch die hohen Wechselgebühren. Wer 100 Mark nacheinander in allen EG-Staaten umtauscht, hat am Ende nur noch die Hälfte in den Händen.

Versicherungen: Für die Versicherungen werden sich erst ab Juli 1994 die Grenzen öffnen. Das kann sich lohnen: Bei Risiko-Lebensversicherungen erreichen die Prämienunterschiede bis zu 900 Prozent. Kontrolle und Rechtsansprüche sind aber noch unzureichend.

Lebensmittel: An der Befürchtung, daß mit dem Wegfall der Grenzkontrollen verdorbene oder gar gefährliche Lebensmittel in deutsche Läden gelangen, scheiden sich die Geister. Die Befürworter halten das neue EG-weite Lebensmittel-Kontrollsystem, das bei den Herstellern ansetzt, sogar für besser als die bisherigen Stichproben an den Grenzen. Die Kontrollvorschriften setzen Mindeststandards für Qualitätsnormen, Konservierungsmethoden sowie Höchstgrenzen für Zusatzstoffe und chemische Rückstände, die von Experten als unbedenklich für die Gesundheit überprüft wurden. Die Kritiker erwarten dagegen neue Lebensmittelskandale. es