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Eingang zum Streichelzoo

■ Kunst am richtigen falschen Ort: Cornelia Hesse-Honeggers Zeichnungen deformierter Kleinstlebewesen im Naturhistorischen Museum Wien

Kunst und Wissenschaft, Frauen und Männer, Natur und Technik – Gegensatzpaare, die theoretisch gut zu mischen sind. Als aber eine Frau auftrat und wissenschaftlich fundierte Zeichnungen im Kunstkontext ausstellte, deren Gegenstand durch Reaktorunfälle deformierte Kleinstlebewesen sind, empörten sich alle Seiten über die Vermischung. Cornelia Hesse-Honegger stellte ihre Zeichnungen „Nach Tschernobyl“ zunächst auf der XVIII. Triennale Mailand 1992 aus; jetzt sind sie im Naturhistorischen Museum in Wien zu sehen. Wunderschöne, bunt aquarellierte Zeichnungen, die zuerst die Schönheit der Natur zu zeigen scheinen. Erst die Erinnerung an den Titel und die kleinen Erklärungsschilder lassen gewahr werden, daß es sich bei den harmlosen, ästhetischen Objekten um Blattwanzen handelt – die doch sonst eher als Schädlinge statt als ästhetische Objekte Aufmerksamkeit erhalten. Durch Strahlenfolgen deformierte Blattwanzen: verkrüppelte Beine, Füße und Fühler, ungleich große Flügel, Geschwüre an den Augen, braune Flecken auf dem Panzer.

Aufgrund ihrer Ausbildung als wissenschaftliche Zeichnerin interessiert sich die Schweizerin schon seit Jahren für die kleinen Lebewesen unter und über Wasser. Seit den 70ern verfolgt sie die durch Gifte verursachten Veränderungen an Insekten. Die westeuropäischen Beschwichtigungsreden der Fachleute über die Gefährlichkeit des radioaktiven Tschernobyl-Niederschlags haben sie dann dazu veranlaßt, nach Mittelschweden zu reisen. Dort fand sie deformierte Pflanzen und Tiere – Mißbildungen, die sie auch im Umkreis der Atomaufbereitungsanlage Sellafield in Großbritannien feststellte (wo sich 1957 der erste Reaktorunfall ereignete), in der Südschweiz, in der Nähe von Tschernobyl, in der Nähe der Reaktoren von Three Mile Island und der Peach Bottom Plant in den USA.

Die Reaktionen auf ihre Veröffentlichung dieser Zeichnungen ließen nicht lange auf sich warten. Den Naturwissenschaftlern war Cornelia Hesse-Honegger nicht wissenschaftlich genug, den Künstlern zu realistisch.

Kunst „als Mittel wissenschaftlicher Untersuchungen und politisch relevanter Darstellung der modernen technischen Welt“ (W.I. Thompson) findet selten nur Eingang in die Kunst-Tempel. Entweder erscheint sie entschärft ob der nur marginalen Beschäftigung mit dem Themengebiet durch den Künstler, oder es ist fundiert und verliert den Kunstanspruch. Hesse-Honeggers Zeichnungen treten dafür in Wien in eine viel brisantere Konfrontation, als es im Kunstkontext möglich wäre: zum einen der naturhistorische Rahmen ausgestorbener Tiere, zum anderen die Tatsache, daß die Ausstellung zugleich der Eingang zum „Kindersaal“ ist. Ihre Ausstellung endet mit einem Video, das die unmittelbar nach dem Reaktorunglück einsetzenden Aufräumarbeiten in Tschernobyl dokumentiert. Und die Folgen. Wenige Meter dahinter beginnt die Teddybär-Ausleih-Stelle, der „Streichelzoo“ und das Blockhaus mit Mikroskopen – die Kinderbildungsstätte des Museums. Sabine Vogel

„Nach Tschernobyl“, Naturhistorisches Museum Wien; bis 6.1.1993 (Katalog: hrsg. vom Bundesamt für Kultur im Verlag Lars Müller anläßlich der XVIII. Triennale di Milano 1992, Bern 1992).

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