■ Rückblick auf ein Jahr humanitäre Arbeit: Die produktive Kraft des Scheiterns
Viele reden von den sich verschlechternden terms of trade, den Handelsbedingungen also, die sich für die Habenichtse und Schmuddelkinder verschlechtert haben. Wer aber wagt, die massive Verschlechterung der terms of relief zu beklagen? Wer sie bloß erwähnt, läuft Gefahr, von seinem PR-Manager bezichtigt zu werden, er störe die Spendenflut. Einträgliche Spendensammlung, fund raising, beruht auf zweierlei: auf sich überbietenden Erfolgsmeldungen und auf sich überschlagenden Katastrophen-, Hunger-, Toten-Zahlen. Nach dem Motto: zwei Millionen Hungernde sind besser als eine. Nein, das ist nicht Zynismus, das ist leider harte Realität der Politik, des Spendenmarktes.
Haben wir uns damals, 1983 ff., über die Somalis geärgert, als sie die Zahlen für die Flüchtlinge höher und höher trieben, 1,4 Millionen reklamierten, es aber maximal 470.000 waren? Heute sind solche Zahlenmystiken das tägliche Brot der großen Organisationen. Überall kann man es erfahren. Mit der Folge, daß wir abstumpfen: Es reicht nicht mehr eine einfache Massenhungersnot, es muß schon eine millionenfache sein. Als die Zahl der Afrika-Hungernden mal zwischen 10 und 30 Millionen hin und herschwankte, fiel der Unterschied zwischen 10 und 30 Millionen im Gedränge gar nicht mehr auf!
Humanitäre Arbeit wurde 1992 zum Ersatz für Politik. Merkwürdig, wie geflissentlich Regierungen uns Gelder gaben, sogar kurz vor Schließung der Bundeskasse. Wir waren gut genug, das schlechte EG- und Politik-Gewissen mit humanitärer Arbeit abzuarbeiten. Aber, was soll's, das Ergebnis zählt.
Das kläglichste Scheitern '92: Wir haben es nicht geschafft, den Waffenexport einzudämmen. Wir starteten eine Minenräumaktion großen Stils in Süd-Angola, Xangongo, mit kastrierten Minenräumpanzern. Ein wirklicher Traum ging in Erfüllung. Panzer ohne Kanonen, ohne MGs im Einsatz beim Vernichten von Minen. Zugleich übergaben wir der Bundestagspräsidentin 69.000 Unterschriften unter einen „Appell zum Verbot der Produktion von Minen“. Wir dachten, da würde ein Ruck durch die Gesellschaft gehen. Zumal auf dem Gewissen von „Cap Anamur“ vier abgerissene Beine lasten: zwei von unserer Krankenschwester Helmien Hendrikse (wertvolle Europäerin, versichert), zwei von der Somali Nimao Abdulkadir ('nur‘ Somali, Behandlung kostete uns 240.000 Mark – wurde bezahlt wegen des mutigen Spendenaufrufs von Gräfin Dönhoff). Wir erfuhren, daß einer der größten, wenn nicht der größte Minenproduzent in der Bundesrepublik 2.000 Meter Luftlinie von unserem Büro entfernt – in Troisdorf sitzt: „Dynamit Nobel“.
Dagobert Lindlau schrieb uns: „Ich fürchte, daß auch Hilfsbereitschaft kontraproduktiv ist. Je mehr man versucht, das zunehmende Elend zu lindern, desto mehr Elend entsteht. Waffenproduzenten genauso einzusperren wie die Hersteller von Rauschgift wäre eine Möglichkeit.“ Er hat recht. Und er hat unrecht. Aber er hat mehr recht. Die entscheidende Aufgabe der nächsten Jahre wird die Blockade der Waffenproduzenten bei uns sein.
In Somalia spielen die Brandstifter jetzt Feuerwehr. Und es wird Beifall geklatscht – und vergessen, wer dieses Land bis über die Halskrause mit Waffen vollgestopft hat: die USA, die UdSSR, auch die Bundesrepublik und, besonders agil, Italien.
Das Panzerminenabwurfsystem „Skorpion“, exquisites Produkt aus der Dynamit-Nobel-Schmiede, bringt pro Minute automatisch 600 Minen, Antipanzerminen, in den Boden. Wir haben bisher in aufreibender Arbeit seit August an die 30.000 Antipanzerminen geknackt und vernichtet. Nachts, in meinen Träumen, belasten mich diese abgerissenen Beine, diese Fleischklumpen, blutend, triefend, Knochen abgesplittert, ausgelaufene Gehirnmasse bei Kleinkindern, die auf der Schwelle ihrer Häuser in Hargeisa gespielt haben und nun mausetot sind. Aber, gemach, lieber Europäer. Geschrei machen wir erst, wenn irgendeines dieser Mordinstrumente einen von uns ritzt.
Der humanitär begründete Einsatz der Bundeswehr-Transalls in Somalia vor der UNO-Intervention war ein Flop. Die Hilfsgüter gingen in die Bäuche der kriminellen Milizen, die von Gaunern wie General Aideed und Ali Mahdi angeführt werden.
Die DDR hat am 1.10.1989 (zwei Tage vor der Vereinigung, hört, hört!) in der Anlage 3 zum Generalvertrag MfAV-bm-001/ 0-KU, mit Unterschrift Ullmann, Generalleutnant, 100.000 Landminen zum Preis von 25,– Mark verscherbelt, vorwiegend in Spannungsgebiete: Landminen mit 75 bis 100 Gramm TNT. Jede dieser 100.000 Minen reicht aus, uns, mir und dir, die Beine abzureißen und unser Lebensglück auf das eines Krüppels zu reduzieren. Das hat das allerchristlichste Ministerium für Verteidigung und Abrüstung ebenso zu verantworten wie den Verkauf von AKM-S- oder K-Minen (insgesamt 47.000), ALKM- Minen (kurz und schallgedämpft), 12.000 zum Preis von je 45,– Mark. Verscherbelt zu Dumpingpreisen.
Scheitern. Wir wollten in Mölln sofort anfangen. Wiederaufbau des Hauses an der Mühlenstraße 9 plus deutsch-türkisch-ausländisches Begegnungshaus, um sofort ein demonstratives Zeichen zu setzen. Aber der Stadtrat von Mölln weiß immer noch nicht, ob es das Zeichen für seine traurig-weltberühmte Gemeinde geben soll – oder vielleicht doch besser nicht. Auf vielen Wipfeln ist Ruh.
Nein, Scheitern macht uns nicht müde, macht nicht schlapp, aber es ernüchtert. Es ist gut, sich einzugestehen, daß der Erfolg der humanitären Aktion immer schon von der nächstgrößeren Schweinerei überboten wird.
„Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“, hatte Dietrich Bonhoeffer gesagt. Aber als ich den Wunsch hatte, am Sonntag nach Rostock und der Todesgefahr für unsere Vietnamesen sollten die Kirchen ihre Andachtshäuser geschlossen lassen, getreu dem Evangelium, verstand das keiner.
Das Scheitern gehört dazu. Es macht stark. Aber die Leser und Bürger sollen es wissen, wie schlecht die Bedingungen geworden sind, für das Einfachste und Schönste auf der Welt: die Hilfe, das Recht und die Gerechtigkeit. Es hilft mir, mich an Heinrich Böll zu erinnern:
„Es ist schön, ein hungerndes Kind
zu sättigen
Ihm die Tränen zu trocknen,
Ihm die Nase zu putzen,
es ist schön, einen Kranken zu
heilen.
Ein Bereich der Ästhetik, den wir
noch nicht entdeckt haben, ist
die Schönheit des Rechts;
Über die Schönheit der Künste,
eines Menschen, der Natur,
können wir uns halbwegs einigen.
Aber –
Recht und Gerechtigkeit sind auch
schön,
und sie haben ihre Poesie,
wenn sie vollzogen werden.“
Wenn ... Rupert Neudeck
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