: Kein Interesse am Bollwerkbau
Eine winterliche Erkundung zur Ausländer- und Asylpolitik der Republik Polen ■ Aus Warschau Christian Semler
Tomas Kuba Koslowski, smart, weltgewandt und dazu Bevollmächtigter der polnischen Regierung für Flüchtlingsfragen wechselt vom Plauderton zum wohlgesetzten Statement: „Ich höre davon, daß seitens der BRD die Absicht besteht, mit Polen über Asyl- und Flüchtlingsfragen zu sprechen. Aber bis jetzt hat uns niemand informiert, niemand ist an uns herangetreten. Welche Haltung die polnische Regierung zum Inhalt des ,Asylkompromisses‘ in Deutschland hat? Gar keine. Im Augenblick haben Sie ein Problem, nicht wir. Aber bitte kommen Sie nicht und sagen: Hallo, wir haben ein Problem, und das werden wir jetzt dadurch lösen, daß wir es bei euch abladen. Wir sind nicht verpflichtet, Abertausende von Migranten und Flüchtlingen aus Deutschland zu übernehmen. Das Abkommen, das wir vor zwei Jahren abschlossen, verpflichtet uns lediglich, beim illegalen Grenzübertritt in flagranti gestellte Personen zurückzunehmen.“
Ungewohntes Gelände
Tomas Koslowski agiert mit unzureichenden Hilfsmitteln auf einem für Polen neuen und deshalb ungewohnten Gelände. Die Republik Polen ist Ende 1991 der Genfer Konvention beigetreten und hat darauf in die (provisorischen) Verfassung einen Asylparagraphen eingefügt. Aber nach wie vor gilt das Ausländergesetz aus dem Jahr 1963, es fehlt an Durchführungsbestimmungen und Dienstanweisungen. Zu Zeiten des Realsozialismus nahm die Volksrepublik pflichtschuldig ihr Kontingent an Flüchtlingen aus Chile auf – Polen war nicht gerade ein Wunschland für die Emigranten. Die eigentliche „Flüchtlingsstory“ Polens, wie Koslowski sagt, begann 1989, als Schweden 800 Äthiopier und Araber, die mit gefälschten Visa einreisen wollten, nach Polen zurückschickte. Sie wurden aufgenommen und haben sich später auf den Weg nach Westen gemacht. 1992 schickte Polen zwei Züge nach Osijek und nahm 1.000 Kriegsflüchtlinge auf, die meisten aus Bosanski Brod, das gerade in die Hände der Serben gefallen war. Die Bosniaken leben jetzt in den schlesischen Wojwodschaften und werden, obwohl sie genaugenommen nicht unter die Genfer Konvention fallen, wie Flüchtlinge behandelt. Aber nur wenige haben einen Antrag auf Anerkennung gestellt. Das gleiche gilt für diejenigen Bürger Ex-Jugoslawiens, die im Sommer 1992 in Polen „hängengeblieben“ sind, weil die skandinavischen (wie auch die meisten westeuropäischen) Staaten über Nacht und ohne auch nur die polnische Regierung zu informieren die Visumpflicht für die Nachfolgestaaten Jugoslawiens einführten.
Seit August 1992 nimmt Koslowskis Amt Anträge auf Asyl bzw. auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus entgegen. Bislang sind es 350 Anträge, 70 davon sind entschieden. Daß sich diese Zahl bislang in Grenzen hält, hat seine Ursache natürlich in dem Wunsch der meisten Flüchtlinge, ihr Glück etwas weiter westlich zu versuchen. Abschreckend wirkt aber auch, daß selbst im Fall der Anerkennung nicht die geringste Aussicht besteht, eine Unterkunft bzw. Arbeit zu erhalten, so daß viele der „Anerkannten“ gezwungen sind, weiter in einem der drei Flüchtlingsheime zu wohnen.
Idyllische Zustände, gemessen an unserer angeblich der Katastrophe zutreibenden Lage? Bislang ist Polen Flüchtlings-Transitland in Richtung Norden und Westen. Aber die polnische Alltagssprache nennt Flüchtlinge auch die, die sich zeitweilig als „Touristen“ auf polnischem Territorium aufhalten – um zu handeln, zu jobben oder zu betteln. An der Grenze Polens zu den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sind dieses Jahr acht Millionen Grenzübertritte registriert worden (im Vergleich zu zwanzig Millionen an der Oder- Neiße-Grenze). Zählt man die Ausreisen von den Einreisen ab, so ergibt das statistisch, daß sich diesen Winter an die zwei Millionen östlich des Grenzflusses Bug beheimatete Ausländer in Polen aufhalten. Formell brauchen die Bürger der sowjetischen Nachfolgestaaten kein Visum, aber eine Einladung. Die auszusprechen ist mittlerweile ein lukrativer Job in Polen geworden – rund eine Million Zloty kostet das Papier, und es kann vom Einladenden beliebig oft ausgestellt werden. Mit diesem Dokument bewaffnet, kann der „Tourist“ ein bis drei Monate in Polen verweilen. Für rumänische Staatsbürger, sprich: Roma, die zunehmend über die Westukraine einreisen, ist ebenfalls kein Visum erforderlich, wohl aber der Nachweis eines Devisenkapitals von 100 Dollar. Da es bei der Einreise menschlich zugeht, dient eine der sorgfältig durch eine Plastikfolie geschützten Dollarnoten oft einer ganzen Gruppe als Eintrittsbillet.
Die Russen sind schon da!
Seit der große Russenmarkt um den Kulturpalast Bauverschönerungsmaßnahmen zum Opfer gefallen ist, muß man auf den verrufenen Markt in Praga, rechts der Weichsel gehen oder auf einen der anderen improvisierten Märkte in den Außenbezirken, um sich mit den resoluten Anbietern östlicher Schätze von Kaviar über Kinderkleidung und Fernrohre bis zum Werkzeugset in den Preis-Infight zu begeben. Man muß die Bahnhöfe und ihre Umgebung aufsuchen, muß an den wackligen Baubuden vorbeistreichen, will man wissen, wo die Besucher aus dem Osten ihre Nächte verbringen. Dann aber sollte man Marek Nowicki besuchen, die Seele des Warschauer Helsinki-Komitees, das sich schon vor 1989 Verdienste um die Verteidigung der Menschenrechte erwarb.
Die Aktivisten des Komitees hausen, als ob sie sich der Lage ihrer Schutzbefohlenen anbequemen wollten, in einem Container-Notquartier, wenngleich in bester Innenstadtgegend, in der Piekna. Was Nowicki über die Besucher aus dem Osten und die Reaktion der Polen auf sie mitzuteilen hat, ist verblüffend und für die Deutschen beschämend zugleich. Zuerst die Fakten: Ganz überwiegend kommen die Touristen, in der Hauptsache Russen, um ein paar Monate zu jobben. Sie verdingen sich hauptsächlich im Baugewerbe, der Lohn beträgt ein rundes Drittel des polnischen Verdiensts. RussInnen verrichten zudem all jene Tätigkeiten, denen die polnischen Touristen einige hundert Kilometer weiter westlich zu unserem Vorteil obliegen. Die Polizei sieht diesem Treiben völlig ungerührt zu. Überraschenderweise haben bis jetzt auch die Gewerkschaften nichts dagegen einzuwenden. Nowicki erklärt sich das damit, daß das Gros der JobberInnen bei einer Unzahl kleiner Privatfirmen tätig ist. Wenn man von einigen Versuchen absieht, die RussInnen um ihren Lohn zu betrügen (mittlerweile wird täglich abgerechnet), scheint es bislang zu keinem einzigen „Zwischenfall“ zwischen Polen und Russen gekommen zu sein – im Gegenteil. Die vielfach beschworene, sich angeblich aus jahrhundertelanger wechselseitiger Unterdrückung speisende Antipathie war wohl doch mehr ein Konstrukt der intellektuellen Eliten gewesen. Jetzt ist auf alle Fälle im täglichen Umgang mit den Russen Verständnis zu spüren, Mitleid, sogar Anteilnahme.
Schwieriger ist nach Meinung Nowickis, aber auch anderer polnischer Freunde, das Verhältnis zu den Roma aus Rumänien. Deren genaue Zahl ist schwer abschätzbar, noch schwieriger ist es, zwischen denen zu differenzieren, die während des Sommers sich „saisonal“ in Polen aufhalten, und denen, die nach Deutschland weiter wollen. Die Grenztruppen schätzten, daß sich im Dezember 1992 rund 30.000 Roma in Polen aufhielten. Wie in Deutschland auch haben sich die bäuerlichen Legenden von den diebischen, lüsternen, Kinder stehlenden „Zigeunern“ in unsere Tage hinübergerettet. Da die einheimischen Roma in den 50er und 60er Jahren „seßhaft“ gemacht wurden (und jetzt voller Abscheu auf die zerlumpten Verwandten aus dem Balkan herabblicken), aktualisiert sich das Vorurteil vor allem an der organisierten Bettelei der rumänischen Roma. Karitative Organisationen haben in Krakau und Warschau die Bettelkinder mit sanftem Zwang eingesammelt, sie gewaschen, ärztlich versorgt, neu eingekleidet. Sie versuchten, die Roma-Familien in Ferienheimen außerhalb der Großstädte unterzubringen – alles vergeblich. Binnen zweier Tage standen die Unterkünfte wieder leer. An dieser Erfahrung ist das deutsche Angebot zu messen, bei der Errichtung von „Durchgangslagern“ für Roma behilflich zu sein.
Den von der öffentlichen Hysterie zermürbten deutschen Zeitgenossen erstaunt in Warschau am meisten die Gelassenheit angesichts der angeblich drohenden „Ausländerflut“ aus dem Osten. Nowicki verweist auf die Willkürlichkeit der Zahlenschätzungen, auf ihre Herkunft aus dem Geheimdienstmilieu, auf ihre Funktion, die Menschen im Westen gegenüber weltweitem Elend zu immunisieren. Koslowski rechnet für die Wanderbewegung aus dem Osten mit viel größeren Zeiträumen. Menschen wie die im ehemaligen sowjetischen Machtbereich wären über Generationen hinweg von der Außenwelt abgeschirmt worden. Die Möglichkeit der Emigration auch nur zu erwägen setzte langwierige Lernprozesse voraus – und wo ließe sich besser lernen als in Polen, das so nahe liegt, wo keine ernsthaften Sprachbarrieren bestehen und vor allem keine Polizeirazzien drohen?
Das polnische Dilemma
Die polnische Ausländerpolitik steht vor einem Dilemma. Sie ist – schon mit Rücksicht auf die Westreisen polnischer Bürger – liberalen Grundsätzen verpflichtet, steht aber unter dem Druck der westlichen Staaten, der „Flut“ bereits an der Buggrenze einen Damm entgegenzusetzen. Bislang will die polnische Regierung an der Visumfreiheit für Bürger aus dem Osten und dem Balkan festhalten. Sie will nur die Einladungspraxis erschweren – leider nach Schweizer Vorbild. Könnte Polen zum Ersatz-Emigrationsland werden, wenn der Asyl- Artikel des Grundgesetzes fällt und die Oder-Neiße-Grenze dichtgemacht wird? Für die Bürger der ehemaligen Sowjetunion ist das wahrscheinlich, für die Roma aus Rumänien kaum anzunehmen. Deren Zahl sinkt seit Herbst 1992 kontinuierlich. Die „Aufklärung“ durch Rostock und Mölln zeigt Wirkung.
Was die Regierung der BRD von Polen konkret will und wobei sie helfen will, ist den Experten in Warschau bislang unklar. Eine summarische Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und „Illegaler“ über die Oder ins „sichere Drittland“ wird Polen nicht hinnehmen. Der Einführung des Visumzwangs Richtung Osten wird Polen sich widersetzen. Dem Land würde auch jede Logistik für die Überwachung der Ostgrenze fehlen, und auf deutsche Hilfsangebote wird man hier kaum zurückgreifen. Polen kann auch nicht „illegale“ Roma (mit abgelaufener oder zurückgenommener Aufenthaltsberechtigung) abschieben, denn es gibt keine entsprechenden Verträge mit der ČSFR und der Ukraine. Was Polen braucht, sind Investitionen für neue Arbeitsplätze und die großzügigere Gewährung von Arbeitserlaubnissen in Deutschland. Gerade hier aber soll nach deutschen Verhandlungswünschen (Begrenzung des Kontingents der Werkverträge) abgeholzt werden. Dem Erkundungsreisenden nach Warschau bleibt so nur eine Schlußfolgerung: Die angekündigten Vertragsverhandlungen der BRD mit Polen sind nichts als ein innenpolitisches Manöver.
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