piwik no script img

Angeklagte dürfen lügen, Richter nicht

Der Vorsitzende Richter im Honecker-Prozeß steht erneut unter Befangenheitsverdacht/ Vorwurf: Beim letzten Termin hat er gelogen/ Verteidigung stellt Antrag auf Einstellung  ■ Aus Berlin Matthias Geis

Berlin (taz) – Honeckers Richter Hansgeorg Bräutigam steht erneut unter dem Verdacht der Befangenheit. Zumindest Nebenklage und Verteidigung waren sich in diesem Punkt am 12. Prozeßtag gegen Erich Honecker einig und stellten entsprechende Anträge. Beide finden, der Vorsitzende Richter habe in der letzten Verhandlung am 21. 12. die Unwahrheit gesagt. Daran ist schwer zu deuteln. Bräutigam hatte damals auf Nachfrage der Nebenklage, was denn der Richter in einer vorangegangenen Prozeßpause so angeregt-vertraulich mit der Verteidigung verhandelt habe, geantwortet, es sei um die Abwicklung einer „normalen Postsache“ gegangen. In Wahrheit hatte es sich jedoch um eine höchst ungewöhnliche „Postsache“ gehandelt: Bräutigam hatte den Anwälten die Bitte eines beisitzenden Schöffen um ein Autogramm des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden übermittelt und zugleich um vertrauliche Abwicklung gebeten. An diese Absprache allerdings mochte sich die Verteidigung nach dem für sie enttäuschenden Ende des besagten Prozeßtages nicht mehr gebunden fühlen. Denn die Anwälte hatten den ungewöhnlichen Schöffenwunsch sowie die Tatsache, daß der Vorsitzende diesen persönlich übermittelte, als deutliches Signal einer bevorstehenden Freilassung ihres Mandanten interpretiert. Dem war bekanntlich nicht so. Der von Bräutigam vorgetragene Autogrammwunsch erschien – nach der Entscheidung, den schwerkranken Honecker weiter in Haft zu halten, in eher perfidem Licht. Die Verteidigung ging zur Presse, und jetzt wackelt der Richter noch ein bißchen mehr als zuvor, als man ihm neben seiner fahrigen Prozeßführung lediglich ein groß aufgemachtes Fernsehinterview übelgenommen hatte.

Ein beispielloser Prozeß, ein beispielloser Vorsitzender. Das findet wohl auch die Staatsanwaltschaft. Zwar schloß sie sich den Ablehnungsanträgen gegen Bräutigam gestern nicht an, da „das beanstandete Gespräch, angesichts der Ferne zum Tatvorwurf nach verständiger Würdigung nicht geeignet ist, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen“; doch in einem allgemein formulierten Mäßigungsappell an alle Prozeßbeteiligten legte die Staatsanwaltschaft nach, was nur auf den Richter gezielt sein konnte: „Wir hielten es nicht für dienlich, wenn die Auswechslung von Gerichtspersonen stattfinden müßte.“ Rechtsanwalt Nicolas Becker: Ein Richter, der in ein Verfahren nicht passe, „muß ausgewechselt werden“. Die Staatsanwaltschaft, so Becker, versäume es jedoch, aus ihrer Kritik an Bräutigam die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.

Diese vermißte Becker auch im Hinblick auf den Gesundheitszustand Honeckers. Während die Verteidigung nach der vorweihnachtlichen Ablehnung gestern erneut einen Antrag auf Verfahrenseinstellung und Freilassung Honeckers stellte, widersprach die Staatsanwaltschaft auch hier. Angesichts des Eindrucks, den Honecker in der Hauptverhandlung mache, sowie der Tatsache, daß der Tumor seit der letzten Untersuchung nicht weiter gewachsen sei, gebe es „keinen Raum für eine abweichende Entscheidung“. Becker stellte hingegen neue Befunde des Haftkrankenhauses vom 30.12. vor, nach denen sich die lebensbedrohliche Annäherung des Tumors an die Leberpforte weiter verringert habe. Erstmals seien auch „erheblich veränderte Blutwerte“ festgestellt worden. Beckers Fazit: Honeckers Gesamtzustand, insbesondere auch dessen psychische Verfassung, habe sich „erheblich verschlechtert“.

Nebenklagevertreter Plöger hingegen sah erneut keinen Anlaß, Honecker durch üble Prognosen den „Lebensmut zu rauben“. Plöger diagnostizierte keinen Tumor, sondern einen „Fuchsbandwurm, der bei Herrn Honecker sein Unwesen treibt“. Der Vorsitzende Richter hört sich das alles geduldig an, Honecker schüttelt verständislos den Kopf, Becker reagiert angewidert: „Hören Sie auf mit Ihrem dreckigen Gerede!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen