: Operation Krümelsturm
■ Wer nicht fragt, bleibt dumm: Der, die, das „Sesamstraße“ wird heute 20 Jahre alt
Fünfzehn Jahre lang galt das Übereinkommen deutscher Fernsehanstalten, kein Programm für Kleinkinder auszustrahlen. Erst 1973 kam das Sesam-öffne-dich für deutschsprachiges Kinderfernsehen. Unter der Federführung des NDR wurden 1972 für DM 6,5 Millionen Mark etliche Kilometer der „Sesamstraße“ in die Wohnstuben der Kinder verlegt. Mit drei Millionen Mark unterstützte das Bildungsministerium das ambitionierte Projekt.
Entstanden ist die US-amerikanische Lernspielshow bereits 1968. Da Kinder vom Erwachsenenfernsehen total überrollt wurden, kam Produzentin Joan G. Cooney, Präsidentin des „Childrens Television Workshop“ (CTW), schon 1966 auf die Idee, ein Kinderfernsehen zu kreieren. Da es sich um ein nichtkommerzielles Programm handeln sollte, mußten die acht Millionen Dollar Entwicklungskosten mühsam zusammengesucht werden. 28.000 Dollar kostete damals die Produktion jeder Folge.
Grundidee war, sich die hohe Aufnahmefähigkeit der Kinder für Werbespots zunutze zu machen. So entstand ein comercial-ähnlicher, psychologischer Popstil mit Musikuntermalung. Entsprechend der Aufmerksamkeit von Kindern dauert jeder Didaktik-Spot nicht länger als zwei bis drei Minuten. Unterprivilegierten Kids mit telegenen Lernhilfen den Schuleintritt zu erleichtern, war ein Anliegen der Vorschulserie „Sesame Street“. Slumkinder redeten über Geometrie, und ein unfreundlicher Zottel pöbelte jeden an, der seiner Hausmülltonne zu nahe kam.
Der internationale Erfolg ließ nicht auf sich warten. 1970 erhielt „Sesame Street“ beim Prix Jeunese in München nach heftigen Diskussionen den ersten Preis. Die Idee einer deutschsprachigen Version löste 1971 erbitterte Fehden aus, über deren schrullige Argumentations-Kartenhäuser man heute nur noch schmunzeln kann. Natürlich war das Kinderfernsehen ein Medium zur Austragung politischer Flügelkämpfe. Während ein Jahrzehnt später sich linke und rechte „Horrorvideo“-Gegner in stolzer Unwissenheit wechselseitig die Argumente in den Mund legen, waren damals die Lager noch zu unterscheiden. Als 1972 das Ja für eine deutsche Version erteilt wurde, wurde die Teilung Deutschlands in Ost und West sendetechnisch durch eine Spaltung in Nord und Süd ergänzt. SWF, SDR und vor allem der BR klinkten sich aus. Die deutsche „Sesamstraße“ war zunächst nur nördlich der Main-Linie zu sehen.
Zum Zankapfel geriet das didaktische Programm, da der 68er- Traum des Marschs durch die Institutionen via „Sesamstraße“ durch die Köpfe sozial unterprivilegierter Kleinkinder führen sollte. Der bayerische Fernsehdirektor Oeller erklärte prompt, es gäbe keine unterprivilegierten Gruppen unter den Vorschulkindern. Auch die deutsche Bearbeitung der „Sesamstraße“, so der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Wilhelm Ebert, sei nicht didaktisch, sondern schlicht ein „Werbeprogramm“ zur Kinderdressur: „Das Werbeprogramm ,Sesamstraße‘ ist ein domestizierendes Programm, das weder einen gewichtigen Beitrag zur emanzipatorischen noch zur integrativen Erziehung zu leisten vermag. Die Kinder werden abhängig von einem Medium, das nur selten über sich hinausweist. Sie werden zur Oberflächlichkeit verführt. Auf der Strecke bleibt das forschende Lernen.“ Die Kritik schoß sich darauf ein, daß durch „Sesamstraße“ der Leistungsvorsprung zwischen Mittelklassekindern und ärmeren Kindern noch vergrößert würde. Wegen der Lust der Macher an gestalterischen Gags sei ferner eine effektive Sprachentwicklung nicht zu erreichen.
Nahezu unbemerkt erfolgte 1972 das Ja. NDR, HR und WDR nahmen die Zusammenarbeit mit CTW auf. Unter der Leitung von Karl-Heinz Grossmann entstand die „Arbeitsgruppe Sesamstraße“, die bald von Jürgen Weitzel übernommen wurde, der noch heute beim NDR für die „Sesamstraße“ zuständig ist.
Für den deutschen „Verschnitt“ wurde bis zu einem Drittel neu gedreht. Die Kosten konnten daher auf 1.000 Mark pro Sendeminute gesenkt werden. Der Zeigefinger der autoritätsbedachten US-Version wurde im Deutschen entfernt. 1976/77 verzichtete man zum Leidwesen der Kinder auf das amerikanische Studiomaterial. Vorbei waren Szenen wie diese: Ernie versucht, dem Krümelmonster die Artikulation des Buchstabens „B“ mit dem Hinweis beizubringen, die Backen zu blähen und die Luft dann stoßartig herauszulassen — was zu einem Ernie hinwegfegenden Sandkrümelsturm führt. Im Rahmen der deutschen Neuproduktion wurde der Akzent von den amerikanischen Rassenproblemen hin zu Sachgeschichten und Fragefilmen („Wie kommen die Borsten in die Zahnbürste?“) verlegt. Nur Ernie bringt Bert weiterhin zur Verzweifelung mit der Frage: „Wie viele Ecken hat ein Kreis?“ Neu ist auch die Figur „Grobi“, der unermüdlich atemlos die fundamentalen Dinge erläutert. „Jetzt bin ich in der Ferne“, sagt er kaum verständlich. Denn er ist weit weg. Sodann rennt er auf die Kamera zu, bis er erschöpft dort angekommen ist, wo er sagen kann: „Jetzt bin ich nah.“
„Wir sind ein halbes Dutzend Mal totgesagt worden“, erklärt Jürgen Weitzel. Auf die in den vergangenen Jahren verstummte Kritik der Anfangsjahre blickt er entspannt zurück. Die Argumente seien von gescheiterten Akademikern, die sich ersatzhalber als Medienpädagogen versuchten, „ritualhaft hergebetet“ worden. Die „Sesamstraße“ hat sich ständig weiterentwickelt und nach Formen und aktuellen Themen gesucht, die für Kinder verständlich sind: Da ist beispielsweise der Vater, der einen freundlichen Ausländer rücksichtslos anlügt, als dieser sich erkundigt, ob die leere Wohnung wohl noch frei sei. „Warum hast du den Mann angelogen?“ fragt die danebenstehende Tochter? – Wer nicht fragt, bleibt dumm. Manfred Riepe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen