: Gegen den Zwang der Bewegung
Serie: Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (8. Folge): Die zerstörte Einheit von Wohnen, Kultur und Arbeit erzwingt den Individualverkehr/ Trabantenstädte als Modelle autofreier Städte ■ Von Hans-Joachim Rieseberg
Stadtplanerisch gesehen, ist Berlin ein Konglomerat aus vielen Dörfern und einzelnen Städten. Mit Fug und Recht kann man sagen, daß Berlin als das Berlin, wie wir es heute kennen, erst 1920 entstanden ist und vordem eigentlich eine Ansammlung von mehreren eigenständigen Orten war.Im Grunde hat es in Berlin nie ein richtiges verkehrliches Zentrum gegeben. Insofern ist auch die Verkehrsplanung nicht zentralistisch ausgerichtet, sondern radial. Als am Ende des Ersten Weltkriegs die erste große Stadtsanierung der größten Mietskaserne der Welt begann, gab es zum Schienenverkehr im Grunde noch keine Alternative. Max und Bruno Taut dachten noch nicht in der Dimension Automobil. Folgerichtig erhielten die großen Siedlungen der zwanziger Jahre – die weiße Stadt in Reinickendorf, Britz-Bückow-Rudow und Onkel Toms Hütte – ordentliche Anschlüsse für den öffentlichen Nahverkehr.
Diese recht gut geplante Stadt wurde dann den Nationalsozialisten für ihre Baumaßnahmen übergeben, und selbst diese planten für das Olympiastadion eine vorbildliche Anbindung für den öffentlichen Nahverkehr.
Die Entdeckung der dritten Dimension
Das ganze Problem ging erst richtig los, als der Zweite Weltkrieg vorbei war, sich alle Welt mit der Charta von Athen beschäftigte und neue Wohngebiete entstanden. Nun wurde alles durcheinandergeworfen: die englische Gartenstadtidee, die Trennung von Arbeiten und Wohnen, die Trennung der Verkehrsbereiche untereinander, die Trennung von Freizeit und Wohnen und wahrscheinlich als entscheidender Faktor die Entdeckung der sogenannten dritten Dimension im Städtebau. Diese letzte Forderung war fast ein Steckenpferd der Architekten der fünfziger und sechziger Jahre. Man glaubte, indem man das Element der Höhe einführte, Fläche für den Verkehr gewinnen zu können. Es war dies eine der Hauptforderungen von Corbusier, und er schreibt wörtlich: „Indem er die Höhe mit einbezieht, wird der Städtebau die für den Verkehr notwendigen Terrains und die der Freizeit dienenden Flächen gewinnen.“ (Le Corbusier, „Charte d'Athènes“)
Das Ergebnis kann man heute überall besichtigen: die Trabantenstädte. In Moskau, Warschau, Bremen, Hamburg, Berlin – überall schossen nun die Trabantenstädte mit Wohnhochhäusern aus dem Boden. Reine Schlafstädte, kaum Infrastruktur, keine Arbeitsplätze, sogenannte gezonte Bebauung mit einer Kernbebauung im Inneren, die bis zu 25 Stockwerke ging, und einer Randbebauung, die die Idylle einer englischen Einfamilienhaussiedlung vortäuschen sollte.
Wenn man sich die damaligen Diskussionen in Erinnerung ruft, so mag man es noch im nachhinein nicht glauben. In Berlin wurde damals der Versuch gemacht, in Kreuzberg Flächen zu sanieren. Es war die bewegte Zeit der Sozialdemokraten, die sozialreformerisch glaubten, den Arbeitern die schlechten Wohnungen, die schlechten Quartiere und die enge Bebauung in Kreuzberg nicht mehr zumuten zu können. Damit wurde aber nicht nur eine soziale Struktur zerstört, sondern auch eine Lebensstruktur beseitigt. Es war die Dichte der Großstadt, vereint mit den Funktionen Arbeiten, Wohnen, Verkehr, Naherholung, Freizeit und Versorgung. Zwar war dies alles keine Idylle – das soll hier nicht beschrien werden –, sondern weidlich sanierungsbedürftig. Aber es war reformfähig, wie sich später, zu spät herausstellte. Statt dessen wollte man das ganze Viertel mehr oder weniger flachlegen, am Stadtrand neu bauen und damit die Stadt insgesamt verändern. Das Ergebnis hieß Märkisches Viertel. Originalton eines ehemaligen Senatsbaudirektors, Professor an der TU und maßgeblich zuständig für die Planung des Märkischen Viertels: „Ich baue die Altbauwohnungen des Jahres 2000. Die für Kreuzberg streiten, sind Romantiker. Der Proletarier aus Kreuzberg denkt realistischer, der wohnt lieber im 20. Stockwerk und schaut über die Stadt als den Kreuzberger Hinterhof. Er hat sein Auto vor der Tür, und seine Freizeit findet sowieso woanders statt.“
Planung ohne jede Verkehrsanbindung
So wurde denn das Märkische Viertel ohne jede Verkehrsanbindung geplant. Der U-Bahn-Anschluß für das Märkische Viertel wurde für das Jahr 2000 geplant. Wie wir heute wissen, dürfte die Zahl stimmen. Rund 30 Jahre, nachdem eine große Stadtsiedlung für 50.000 Einwohner fertiggestellt worden ist, könnte es sein, daß der U-Bahn-Anschluß fertiggestellt ist. Eine größere Fehlplanung im Verkehrsbereich ist eigentlich nicht vorstellbar. Mindestens zwei Generationen von Bewohnern sind dem öffentlichen Nahverkehr in seiner schnellen Schienenform entwachsen und entwöhnt und werden schwerlich vom Auto auf die U-Bahn oder in fernster Zukunft sogar auf die S-Bahn umsteigen. Die Entmischung von Wohnung und Arbeit schafft zusätzliche Probleme in den Trabantenstädten, und die Trabantenstädte selbst sind so gleichförmig, so verödet, daß trotz aller Beteuerungen und Untersuchungen eine Urbanität im Sinne einer Naherholung, im Sinne des kleinen Ladens an der Ecke und im Sinne einer urbanen Ruhe nie entwickelt worden ist und nie entwickelt wird. Insoweit sind die Trabantenstädte Fluchtburgen im wahrsten Sinne ihrer widersprüchlichen Deutung: Burgen, die den Außenstehenden abschrecken, und Stätten der Flucht, die den einzelnen Bewohner geradezu zwingen, der Gleichförmigkeit seiner Siedlung und seiner Behausung zu entfliehen.
Trabantenstädte als Modelle der autofreien Stadt
Vergleicht man nun die Trabantenstädte in Ost und West, so sind in der ehemaligen DDR wenigstens die Verkehrsprobleme besser gelöst worden. Die Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf sind mit U-Bahnen, mit S-Bahnen und mit Straßenbahnen vorbildlich und rechtzeitig erschlossen worden. Das ändert aber nichts an ihrer städtebaulichen Gesamtproblematik, weil die Masse Mensch ihrem Schicksal in Marzahn und Hellersdorf dadurch zu entfliehen sucht, indem sie massenhaft Berliner Seen mit Datschen verziert.
Dabei werden die Chancen, die solche Großraumviertel eigentlich geboten hätten und eventuell noch bieten, in der Regel auch heute verkehrsplanerisch nicht genutzt. Es ist durchaus vorstellbar, eine solche Trabantenstadt als Modellstadt für eine weitgehend autofreie Verkehrslösung zu entwickeln, indem man nicht – wie sonst üblich – mit Tempo-30-Zonen hantiert, sondern indem man konsequent die heute noch vorhandenen Automobile an bestimmten Punkten konzentriert und ansonsten in einem solchen Viertel Fahrverbote erläßt. Das setzt aber voraus, daß man die Schienenanbindung nicht perfektioniert vollendet – wie im Fall des Märkischen Viertels, sondern in offener, schneller Bauweise, was zu einer erheblichen Verbilligung führen würde –, längs der Schienenanbindung Industrie- und Dienstleistungszentren ansiedelt und innerhalb eines solchen Viertels ein automatisiertes Magnetbahnsystem im Ringverkehr führt. Der Fernbahn- oder U-Bahn-Anschluß wäre eine städtische Funktion, während das Ringbahnsystem von der Wohnungsbaugesellschaft, die ja in der Regel solche großen Viertel betreibt, unterhalten werden müßte.
Magnetbahn und Car-Sharing-System
Hier würde sich bewußt eine Teilgesellschaft dafür entscheiden, auf das Automobil zu verzichten und die notwendigen Mittel zur Unterhaltung eines eigenen kleinen Verkehrssystems innerhalb des Viertels durch allgemeine Umlage über die Mieten aufzubringen. Das Ganze könnte ergänzt werden durch ein Car-Sharing-System, das inzwischen als Stadtauto entwickelt ist, und damit könnte man in einer solchen Siedlung einen reformerischen Verkehrsimpuls bringen und darüber hinaus eine neue Form des Wohnens in einer autofreien Form organisieren. Damit würden Nachteile, die aus der Auflösung der Blockstruktur entstanden, relativiert oder beseitigt werden, denn durch die Auflösung der Blockstruktur konnte der Lärm von den ein- und ausfahrenden Fahrzeugen ungehindert bis in die tiefsten Wohnzonen vordringen.
Darüber hinaus müßten diese Trabantenstädte nicht nur verkehrlich, sondern auch im Sinne einer Verkehrsplanung durch die Einbeziehung in die kulturelle Entwicklung aufgewertet werden. Bei der Planung der Theater, der Museen und der sonstigen Attraktivitäten im Freizeit- und Sportbereich müßten Dezentralisierungspläne gemacht werden, um auch diese Viertel für die eigenen Bewohner attraktiv zu machen, attraktiv deshalb, weil andere diese Viertel besuchen, weil sie etwas Besonderes in sich bergen. Städtebaulich gesehen, würde man damit an die Traditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen und damit an den Begriff der Kreuzberger Mischung.
Urbane Strukturen neu schaffen
Damit wäre auch die Aufgabe, die sich derzeit der Stadt- und Verkehrsplanung in Berlin stellt, besser zu umschreiben. Es geht nicht darum, durch den Wiederaufbau des Stadtschlosses an einer falschen Tradition anzuknüpfen, sondern es geht darum, durch die Rekonstruktion des alten Stadtgrundrisses im ehemaligen Zentrum urbane Strukturen zu schaffen, die nach außen wirken. Das größte Verbrechen der Ulbricht-Ära war nicht der Abriß des Stadtschlosses, sondern die Beseitigung von Fischer-Kiez und ehemaligem Zentrum und die weitgehende Zerstörung einer ganzen Innenstadtstruktur. Und ihr entsprach dann folgerichtig der Abriß von Kreuzberg im Westen und die Flächensanierung im Wedding. Verkehrspolitisch wurde damit der Stadt die Seele geraubt und die weitere Identitätsfindung genommen. Berlin verkam damit zu einem Ort von Anonymität. Man findet buchstäblich kein Ziel mehr. Das schafft den Zwang zur Bewegung und die Sucht, etwas zu finden, wo man anhalten kann.
Verkehrs- und Planungspolitik ist eben doch im Tiefsten emotional und nicht rational verankert. Am besten wäre es, die Linie 1 in Kreuzberg als die schönste und nostalgischste U-Bahn, die über der Erde fährt, zum Prototypen für alle Planungen in den Trabantenstädten zu nehmen.
Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise; kürzlich erschien „Arbeit bis zum Untergang“ im Raben- Verlag.
Die nächste Folge erscheint am Montag kommender Woche.
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